Ackermann: „Das GKV-System geht auf kritische wie finanziell angespannte Jahre zu.“
Im Interview mit dem KPMG-Gesundheitsbarometer bewertet AOK-Chef Tom Ackermann die aktuelle GKV-Finanzlage und fordert: „Es braucht Mut und politische Verlässlichkeit, die strukturellen Themen mit bestätigten oder angepassten Leitplanken zu versehen."
Herr Ackermann, seit acht Jahren sind Sie Vorstandsvorsitzender der AOK NordWest. Wie sah Ihr beruflicher Werdegang aus und welche Aufgabenbereiche haben Sie innerhalb der AOK?
Mein Berufseinstieg war als Diplom-Kaufmann in einer Unternehmensberatung. Dort habe ich die Einführung des DRG-Systems begleitet. Über die Verbindung zum Krankenhaussystem kam der Kontakt zur AOK Die AOK hat mit mehr als 20,9 Millionen Mitgliedern (Stand November 2021) als zweistärkste Kassenart… zustande. Ich hatte dann die Möglichkeit beim AOK-Bundesverband im Bereich „Changemanagement“ zu arbeiten, in dem, vereinfacht gesagt, der seinerzeitige kassenarteninterne Länderfinanzausgleich geregelt wurde. Nach der Fusion von der AOK Rheinland mit der AOK Hamburg habe ich das Angebot bekommen, dort als Bevollmächtigter des Vorstands für Finanzen, Controlling und Projekte zu beginnen. Nach sieben Jahren wechselte ich in den Vorstand der AOK NordWest und übernahm dort zunächst die Bereiche der klassischen Innenressorts Finanzen, Personal, IT und interne Dienste. Mit meinem Wechsel in den Vorstandsvorsitz zum 01.01.2016 habe ich die Themen Kunde und Markt einschließlich der Flächenorganisation sowie die Bereiche ambulante sowie stationäre Versorgung übernommen. Hier schließt sich der Kreis zur Krankenhausversorgung.
Wie hat sich die Finanzierungssituation im Gesundheitswesen in den letzten 10 Jahren entwickelt und wie bewerten Sie den heutigen Stand?
Es gibt immer Zyklen in dieser Entwicklung. Mit Blick auf die GKV gab es Anfang der 2000er Jahre ausgeprägte finanzielle Probleme, von denen zuvorderst die AOKs betroffen waren. In der damaligen Situation konnten die Krankenkassen Die 97 Krankenkassen (Stand: 26.01.22) in der gesetzlichen Krankenversicherung verteilen sich auf… noch Kredite aufnehmen, das hieß dann negative Betriebsmittel, eine schönere Umschreibung für Verschuldung. Im Jahr 2009 wurde dann der neue morbiditätsorientierte Risikostrukturausgleich (Morbi-RSA) eingeführt, durch den alle AOKs in eine neue Phase übergingen, in der sie selbstständig, ohne weitere interne Transferzahlungen mit einem wettbewerblichen Beitragssatz am Markt agieren konnten. In der Folge kam es zu einer Reihe von Neuaufstellungen und Fusionen in der GKV. Zudem waren die Sozialversicherungssysteme der Dekade der 10er Jahre durch stabile politische Rahmenbedingungen und nach der globalen Finanzkrise in einem wirtschaftlich positiven Umfeld in dieser Dekade in Summe gut aufgestellt. Zu dieser Zeit wurden üppige Einnahmen über hohe Beschäftigungszahlen generiert und auch in der Versorgung ausgegeben.
Wir sind inzwischen – spätestens mit dem Ausklingen der Ära Spahn in der letzten Legislatur – in einer neuen Dekade angekommen. Trotz einer schwächelnden Wirtschaft gibt es bislang keine Einbrüche am Arbeitsmarkt und damit weiter gute Einnahmen in den Sozialversicherungssystemen. Aber die Spielräume werden enger. Das zeigt sich nicht zuletzt in der Beitragsentwicklung der gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV). Der Ausblick ist eingetrübt, zumal einige Forderungen der GKV wie faire Beiträge für Bürgergeld- oder ALG-I-Beziehende sowie ein reduzierter Umsatzsteuersatz insbesondere bei den Arzneimitteln bislang nicht umgesetzt worden sind, obwohl Teile davon im Koalitionsvertrag der Ampel vereinbart worden sind. Wir sind daher froh, dass die AOK NordWest mit einem stabilen Zusatzbeitrag Seit 2009 erhalten die gesetzlichen Krankenkassen zur Deckung ihrer Ausgaben Zuweisungen aus dem… von 1,89 Prozent in das neue Jahr gehen kann. Aber das GKV-System geht sicherlich auf kritische wie finanziell angespannte Jahre zu, da sich die Schere zwischen Ausgaben und Einnahmen, die sogenannte strukturelle Lücke, weiter öffnet.
Wie wirken sich die geplanten legislativen Reformen, wie beispielsweise die Neu-Evaluierung des Morbi-RSA oder die Krankenhausreform, auf die Finanzierung im Gesundheitswesen aus?
Es gibt aus meiner Sicht zwei wesentliche externe Einflussfaktoren. Der eine ist, dass wir uns unter dem Primat anderer politischer Schwerpunkte neu sortieren müssen. Wir haben eine allgemeine Situation von Wirtschaftsschwäche und Inflation, Kriege in Europa und der Welt sowie den Klimawandel. Dadurch sind die ersten drei Plätze in den politischen und gesellschaftlichen Debatten vergeben. Gesundheitspolitische Diskussionen und Entscheidungen für die GKV und Sozialversicherungen rangieren bestenfalls auf Platz vier. Nichtsdestoweniger gibt es weiterhin dringenden Handlungsbedarf bei der Versorgung – angesprochen sind hier sowohl inhaltliche Versorgungsaspekte als auch Fragen der fairen Refinanzierung. Zu dem bereits genannten Aspekt der Beiträge für die Bürgergeldbeziehenden steht auch die Dynamisierung der Bundesbeteiligung an der Finanzierung von versicherungsfremden Leistungen im Koalitionsvertrag, ist bisher aber nicht umgesetzt. Wir gehen davon aus, dass der GKV strukturell etwa 10 Milliarden Euro jährlich fehlen. Das sind rund 0,5 Beitragszehntel, die gegenwärtig für Versorgungsprozesse fehlen bzw. zulasten der Zusatzbeiträge gehen. Eine gesetzliche Änderung wird in dieser Legislatur nach meiner Einschätzung aber nicht mehr stattfinden. Damit bleibt es bei den notwendigen Reformen der inhaltlichen Versorgungsaspekte.
Der zweite und größte externe Einflussfaktor ist der Fachkräftemangel. Der Druck in allen Bereichen des Versorgungssystems ist bereits so massiv gestiegen, dass die Politik nicht mehr ausweichen kann. Dieses Thema lässt sich nicht mit (noch) mehr Geld lösen, hier braucht es strukturelle Überlegungen zur Verbesserung der inter- und intrasektoralen Zusammenarbeit. Wenn man zudem schaut, wie gegenwärtig beim Krankenhaustransparenzgesetz oder auch der Krankenhausreform taktiert wird, fällt auf, dass die Länder auf der einen Seite Forderungen im Bereich der Daseinsvorsorge und Krankenhausplanung Die Planung von Krankenhäusern steht in der Verantwortung der Bundesländer, die damit die… stellen, auf der anderen Seite aber ihrer Verantwortung seit etwa 30 Jahren nicht gerecht werden. Sie machen weder eine substanzielle Krankenhausplanung für bessere Qualität ist ein zentrales Versorgungsziel der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Im Rahmen der… und Versorgung, noch kommen sie ihrem Primat der Investitionskostendeckung nach. Läge die Deckungsquote beim Investitionsbedarf nicht jedes Jahr bei lediglich 50 bis 60 Prozent, gäbe es jetzt die Diskussion rund um die DRGs und die Vorhaltefinanzierung nicht in dieser Dimension. Ich bin eher skeptisch, ob die Krankenhausreform in ihrer jetzig diskutierten Struktur als geeintes Bund-Länder-Paket noch kommt.
Bei der kommenden Neu-Evaluierung des Morbi-RSA geht es um die Prüfung der Zielgenauigkeit der Mittelverteilung aus dem Gesundheitsfonds Der Gesundheitsfonds wurde durch das 2007 verabschiedete GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz eingeführt.… auf die einzelnen Krankenkassen, vor dem Hintergrund, dass die Versichertenkollektive und Risiken unterschiedlich ausgeprägt sind. Das aktuelle Ausgleichsverfahren setzt immer noch falsche Anreize, es gibt zu viel Geld für gesunde Versicherte und im Gegenzug sind vulnerable Gruppen (Pflegebedürftige, Bezieher von Transfereinkommen und Härtefälle), die in der GKV deutlich unterschiedlich verteilt sind, in der Finanzierung nicht gedeckt. Diese Fragestellung sollte über eine noch zu schaffende Datengrundlage durch den wissenschaftlichen Beirat beurteilt werden.
Durch den Fachkräftemangel und die Digitalisierungsgesetze im Gesundheitswesen werden zukünftig schlankere Verwaltungsstrukturen benötigt. Inwiefern erwarten Sie auch in Ihrer Krankenkasse Änderungen in den Verwaltungsstrukturen und zum Beispiel Einsparungen bei den Verwaltungskosten? Welchen Effekt erhoffen Sie sich gegebenenfalls durch stärkere Prozessautomatisierung oder KI?
Zum einen wird sich der zahlenmäßige Rückgang der gesetzlichen Krankenkassen fortsetzen. Die Verwaltungskosten Die allgemeinen Verwaltungskosten des deutschen Gesundheitswesens betrugen 2020 nach Angaben des… werden dadurch weiter sinken, wenngleich sich die GKV in Summe mit knapp fünf Prozent an den Gesamtaufwendungen hier nicht verstecken muss gegenüber anderen Branchen oder der PKV und es nicht die strukturelle Unterfinannzierung lösen wird. Selbstverständlich haben Krankenkassen als mittelbare Staatsbetriebe eine ökonomische Eigenverantwortung und sind verpflichtet, ihre Aufgaben wirtschaftlich zu erfüllen. Zum anderen werden durch den Babyboomer-Effekt auch in der GKV in den nächsten fünf bis sieben Jahren viele Kolleginnen und Kollegen in den Ruhestand gehen. Diese Abgänge werden wir nach meiner Einschätzung durch Prozessoptimierung, Automatisierung sowie den Einsatz von KI-Technologien in größeren Umfängen kompensieren können. Hier liegt ein wesentlicher Hebel für die Verschlankung der Verwaltungsstrukturen und dem ökonomischeren Einsatz der Ressourcen.
Wir haben als AOK NordWest, aber auch im AOK-Verbund in den vergangenen Jahren viele Prozesse automatisiert und am Markt etabliert. Wenn man uns mit anderen Dienstleistungsbereichen und Strukruren des öffentlichen Dienstes vergleicht, dann haben wir in der GKV schon viele Hausaufgaben erledigt. Im Pflichtenheft der Krankenkassen stehen zum Beispiel schon seit Jahren Ausbau und Online-Bereitstellung von Use-Cases für die Versicherten. So stellen wir über unser Online-Portal und die Meine-AOK-App bereits viele Services zur Verfügung, die den AOK-Mitgliedern den Kontakt zu ihrer Krankenkasse erleichtern, zum Beispiel die voll automatisierte Erstattung bei professioneller Zahnreinigung. Und hier wird noch eine Menge mehr kommen. Auf der Ebene der Sachbearbeitungen, also Genehmigungen, Prüfungen und Abrechnungen, wollen wir in den nächsten Jahren noch einiges automatisieren.
Wie sehen Sie in Anbetracht von neuen Gesetzgebungen (zum Beispiel Gesundheitsdatennutzungsgesetz), zunehmenden Effizienzerfordernissen, Wettbewerb und Digitalisierungschancen das Erfordernis, Geschäftsabläufe innerhalb der Krankenversicherung zu reformieren?
Wenn man auf das vor uns liegende Jahr 2024 schaut, werden das neue Gesundheitsdatennutzungsgesetz (GDNG) sowie das Digital-Gesetz (DigiG) wesentliche Änderungen für die Gesundheitsbranche mit sich bringen. Hier liegen vielfältige Ansätze gerade für die Rolle der GKV entlang der Versorgungskette. Beispielsweise sollten und können GKVs ihre Versicherten aktiv zu Vorsorgeuntersuchungen oder Arzneimittelunverträglichkeiten informieren. Hier ergeben sich Möglichkeiten, zusammen mit unseren Vertragspartnern in Apotheken, ärztlichen Praxen etc. gute neue Versorgungsprozesse zu etablieren.
Es wird in den nächsten zehn bis 15 Jahren aber auch weiterhin ein Multikanalangebot in der Versichertenkommunikation und -administration geben, da es immer noch Menschen geben wird, die kein Smartphone haben oder ihre Gesundheits-ID darauf nicht nutzen werden oder wollen. Wenn wir jedoch so weit sind und sich alle digital in der Arztpraxis authentifizieren, dann gibt es noch ein enormes Potenzial an Prozessen, die wir verbessern, teilautomatisieren oder in die Dunkelverarbeitung geben können. Und die gewonnene Zeit steht uns allen, zuvorderst dann aber den Vertragspartnern in den Heilberufen und der Heilkunde für die Versorgung der Versicherten zur Verfügung.
Ein Beispiel hierfür ist das Thema „Ersatzbescheinigung“. Haben Sie derzeit in einer ärztlichen Praxis keine gültige oder keine funktionierende elektronische Gesundheitskarte (eGK) Die elektronische Gesundheitskarte – kurz eGK – ist der Versicherungsnachweis, um Leistungen der… dabei oder kann die Karte nicht eingelesen werden, muss sich die Praxis bei der Krankenkasse rückversichern, dass Sie wirklich dort Mitglied sind. Seit Jahrzehnten erfolgt die Rückfrage über einen Anruf bei der Krankenkasse. Wird Ihre Mitgliedschaft bestätigt, wird eine sogenannte Ersatzbescheinigung ausgestellt und per Fax an die Praxis übermittelt. Das ist abstrus, aber immer noch der etablierte Standardprozess. Ab diesem Jahr werden wir in der Lage sein, diesen Prozess über die Telematikinfrastruktur Mit dem Gesetz für sichere digitale Kommunikation und Anwendungen im Gesundheitswesen… abzubilden. Auch hier wird der administrative Bereich dann enorm entlastet. Kassenartenübergreifend entfallen bis zu zehn Prozent des täglichen Inbound-Anrufvolumens auf diese Use-Cases.
Aus unserer Perspektive ist die AOK-Familie je nach Situation mal kooperativ, mal kompetitiv. Bei welchen Themen sehen Sie zukünftig eine stärkere Zusammenarbeit?
Wir haben – besonders im Bereich der IT-Back-End-Investitionen wie die elektronische Patientenakte Mit der ePA können Patientinnen und Patienten sowie die an Ihrer Behandlung beteiligten Ärztinnen… (ePA Mit der ePA können Patientinnen und Patienten sowie die an Ihrer Behandlung beteiligten Ärztinnen… ) und unsere SAP-basierte IT-Plattform Oscare für die Kernprozesse grundsätzliche strategische Weichenstellungen getroffen. In längeren Prozessen haben wir ein Vorgehen und Zusammarbeitsmodell entwickelt, dass die Ressourceneffizienzen im gesamten System erhöht, gleichzeitig aber Differenzierungen zulässt. Im AOK-System wie in der GKV gibt es aus den letzten zehn Jahren unterschiedliche Entwicklungen und Prioritäten beim jeweiligen digitalen Reifegrad des Unternehmens mit dem Ergebnis, dass sich die AOKen an unterschiedlichen Stellen und Positionen befinden. Hier haben wir nun Möglichkeiten geschaffen und einen neuen Governance-Rahmen etabliert, der es uns erlaubt auf dem oscare-Back-End sowohl in Richtung unserer Töchter als auch in Richtung Drittmarkt auf der Front-End-Seite anders zu bewegen als noch vor drei bis fünf Jahren. Dadurch ergeben sich auch Anknüpfungspunkte für neue Verbünde und Entwicklungsgemeinschaften innerhalb der AOKen wie auch mit Partnern in der GKV
Noch ein kleiner Ausblick in Richtung der gemeinsamen Nutzung von Ressourcen: Ich glaube, auch die GKV insgesamt kann sich die Frage stellen, wie man eine Back-End-Ressource wie die ePA Mit der ePA können Patientinnen und Patienten sowie die an Ihrer Behandlung beteiligten Ärztinnen… noch besser teilen kann. Noch haben wir unterschiedliche Systeme. Die Frage von Wettbewerb und Differenzierung findet aber nicht so sehr im Back-End statt, sondern in Use-Cases und Front-End-Themen. Mit nur einer Back-End-Lösung für die ePA Mit der ePA können Patientinnen und Patienten sowie die an Ihrer Behandlung beteiligten Ärztinnen… würden die Kosten jedenfalls günstiger.
Wie kann die AOK NordWest finanziell vom AOK-Verbund profitieren und welche zusätzlichen Kooperationsmodelle können Sie sich vorstellen, um finanzielle Synergien zu nutzen? Gibt es außerhalb des AOK-Verbundes weitere Kooperationen im Gesundheitswesen, die Sie anstreben?
Wir haben zum einen unseren Goldstandard der Arznei-Rabattverträge Seit Inkrafttreten des Beitragssatzsicherungsgesetzes 2003 und erweitert durch das… , der politisch jedoch aus meiner Sicht einseitig und diesbezüglich ungerechtfertigt in der Kritik steht. Die Verfahren und Strukturen zur Preisregulierung von Arzneimitteln mit neuen Wirkstoffen nach dem 2011 eingeführten Gesetz zur Neuordnung des Arzneimittelmarktes (AMNOG) werden seitens der Politik zunehmend ausgehöhlt. Generell ist nicht mehr gewünscht, dass Krankenkassen über Ausschreibungen wie bei der Zytostatikaversorgung oder bei Hilfsmitteln ihrem Auftrag aus dem SGB V nachkommen, nicht nur eine qualitativ hochwertige, sondern auch eine wirtschaftliche Versorgung sicherzustellen.
Kooperationen können wir uns noch eine ganze Reihe vorstellen. Wir haben das Thema Sicherstellung einer bedarfsgerechten Hilfsmittelversorgung noch einmal über den GKV-Spitzenverband Mit dem GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz wurden die Organisationsstrukturen in der gesetzlichen… aufgenommen und werben sehr dafür, dass die Unterwanderung des AMNOG-Systems nicht noch weitergeht.
Der GKV-Schätzerkreis geht für 2024 von einer Finanzierungslücke in der Größenordnung von 3,2 Milliarden Euro aus, die grundsätzlich durch höhere Zusatzbeiträge der GKVs geschlossen werden muss. Rechnerisch kommt er dabei auf einen durchschnittlichen Zusatzbeitragssatz von 1,7 Prozent. Welche konkreten Maßnahmen wünschen Sie sich vom Gesetzgeber, um den Beitragserhöhungsdruck zu minimieren und vor dem Hintergrund des demografischen Wandels eine nachhaltige Finanzierung zu etablieren?
Der Druck, den Zusatzbeitrag weiter zu erhöhen, zeigt, dass die Zeiten vorbei sind, in denen das System nach der Vermögensabführung weitere Reserven hat, die es ausgeben kann. Beispielsweise ist die politische Willensausprägung vor Ort aktuell massiv auf eine deutliche Erhöhung der Landesbasispflegewerte im Krankenhaussystem ausgerichtet. Hierdurch würden enorme Summen ohne jede Differenzierung nach dem tatsächlichen Bedarf gleich verteilt und in eine Struktur gegeben, die so nicht zukunftsfähig ist. Ähnlich sieht es bei niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten oder Apotheken aus. Wenn die Defizite in den Versorgungsstrukturen immer nur durch Geld zulasten Dritter – der Beitragszahlenden – kaschiert werden, dann werden die nächsten Jahre noch sehr unangenehm.
Die Frage, die man jetzt politisch noch einmal stellen sollte, ist: Zählt die Grundlohnsumme als Orientierungsgröße oder zählt sie nicht? Jahrelang hatten wir eine grundlohnsummenorientierte Ausgabenpolitik. Das hat zur Stabilisierung der Beitragssätze beigetragen. Diesen Grundsatz haben wir in den vergangenen Jahren mehrfach durchbrochen, weil wir neben den Schutzschirmen, neben den Überbezahlungen, reichlich Beitrags- und Steuer-Geld nicht nur in den stationären Bereich gepumpt haben. Es braucht den Mut und die politische Verlässlichkeit, die strukturellen Themen in den Sozialversicherungen für die nächsten zehn bis 15 Jahre mit bestätigten oder angepassten Leitplanken zu versehen. Wir werden und wollen unseren Beitrag als gesetzliche Krankenkasse dazu beitragen.
Interview mit AOK-Chef Tom Ackermann
Finanzierung in der Gesetzlichen Krankenversicherung
Die angespannte finanzielle Situation in der Gesetzlichen Krankenversicherung und Möglichkeiten, die sich durch die Digitalisierung bieten.
Format: PDF | 1 MB
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