Zukunft der Pflege

Eine Pflegekraft hält die Hand einer älteren Dame.
Eine Pflegekraft hält die Hand einer älteren Dame.

„SGB Reha“: Beispielhaftes Pflegeheimkonzept fördert die Selbstständigkeit

Im Mittelpunkt des Projekts SGB Reha steht eine menschenwürdige Pflege. Eine Pflege, die sich vor allem an den Stärken und weniger an den Defiziten der Bewohnerinnen und Bewohner von Pflegeeinrichtungen orientiert. Es geht darum, die Gesundheit, Mobilität und Lebensqualität älterer Menschen zu erhalten oder im Idealfall zu verbessern. Das Konzept setzt auf therapeutisch-rehabilitative Impulse, die auf individuelle Bedürfnisse zugeschnitten werden. Ganz nach dem Motto: Zurück in das Leben und nicht zurück in die Betten. Dabei wird im Pflegealltag Wert auf das multiprofessionelle Zusammenspiel eines Teams gelegt: Fachleute aus Therapie, Medizin, Pflege, Betreuung und Pharmazie arbeiten Hand in Hand.

Die Abkürzung SGB Reha steht für „Sektorenübergreifende gerontopsychiatrische Behandlung und Rehabilitation in Pflegeheimen“. Das Projekt ist 2022 gestartet und läuft über vier Jahre, in denen es wissenschaftlich eng begleitet wird. Geleitet wird das Projekt von der AOK Rheinland/Hamburg, gefördert vom Innovationsausschuss des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA). Insgesamt elf stationäre Pflegeeinrichtungen in Nordrhein-Westfalen und Hamburg sind beteiligt: Vier Einrichtungen in Düren, Hamburg, Krefeld und Rösrath haben bereits im Oktober 2023 mit der Umsetzung begonnen. Weitere sieben Einrichtungen in Aachen, Bonn, Essen, Hamburg (2), Krefeld und Wadersloh-Diestedde starten im Jahr 2024.

Als Konsortialpartner sind die Universität Potsdam, die Medizinische Hochschule Brandenburg Theodor Fontane, die Deutsche Akademie für Gerontopsychiatrie und -psychotherapie (DAGPP) sowie die Evangelische Altenhilfe Mülheim an der Ruhr gGmbH mit an Bord.

Auch wenn die Evaluationsergebnisse noch nicht vorliegen, gibt es bereits positive Erfahrungen bei der Umsetzung des innovativen Ansatzes. Zwei Einrichtungen der Evangelischen Altenhilfe Mülheim an der Ruhr gGmbH haben die therapeutisch-rehabilitative Pflege entwickelt und bei sich etabliert. Hier zeigt sich, dass in vielen Fällen der bestehende Pflegegrad vorübergehend gehalten und mitunter verbessert werden kann. In einzelnen Fällen ist bei einem besonders positiven Verlauf der Therapie sogar möglich, in die häusliche Umgebung zurückzukehren.

SGB Reha richtet sich an Bewohnerinnen und Bewohner über 65 Jahren, die in Pflegeeinrichtungen leben und mit Pflegegrad 2 oder höher eingestuft worden sind. Um die begleitende Studie nicht zu verfälschen, darf bei ihnen keine fortgeschrittene Demenz diagnostiziert worden sein. Zudem dürfen sie nicht länger als vier Jahre in der Einrichtung wohnen und müssen gesetzlich versichert sein.

Warum SGB Reha wichtig für die Versorgung ist

Das Konzept zielt darauf ab, Pflegebedürftigen im Rahmen ihrer Möglichkeiten ein weitgehend selbstständiges Leben zu ermöglichen. Es geht darum, die Fähigkeiten der Bewohnerinnen und Bewohner zu aktivieren und zu erhalten. Bislang orientiert sich die Vergütung in der Pflege an der Höhe des Pflegegrades. Es fehlen also ausreichend finanzielle Anreize, um Menschen in ihrer Pflegebedürftigkeit zu mobilisieren und ihnen mehr Lebensqualität zu ermöglichen. Dieses Prinzip wird in der therapeutisch-rehabilitativen Pflege umgekehrt. Es handelt sich damit um ein Konzept, das die Pflege grundlegend verändern könnte, indem es Argumente für eine Neuordnung der Schnittstelle zwischen gesetzlicher Kranken- und Pflegeversicherung liefert.

Wie es nach der geförderten Projektlaufzeit mit SGB Reha weitergeht

Der G-BA wird nach der geförderten Projektlaufzeit das Innovationsfonds-Projekt SGB Reha bewerten. Primäres Ziel ist die Überführung in die Regelversorgung, um den therapeutisch-rehabilitativen Ansatz in der Pflege flächendeckend umsetzen zu können.

SGB Reha ist nicht nur für die Betroffenen und ihre Angehörigen ein Gewinn, auch das gesellschaftliche Bild der stationären Pflege verbessert sich. Damit einher geht eine höhere Wertschätzung der Arbeit von Pflegekräften. Der Pflegeansatz erhöht die Arbeitszufriedenheit, erzeugt ein sinnstiftendes Arbeitsumfeld und sorgt für eine bessere interne und externe Kommunikation. Langfristiger Effekt: Pflegeberufe werden attraktiver, dem Personalmangel kann entgegengewirkt werden.

„Eine individuelle Versorgungsplanung, die einen Fokus auf die Rehabilitation und Wiederherstellung verlorener Fähigkeiten legt, wäre ein echter Richtungswechsel. “

Matthias Mohrmann

stellvertretender Vorstandsvorsitzender der AOK Rheinland/Hamburg

3 Fragen an Matthias Mohrmann

Matthias Mohrmann, stellvertretender Vorstandsvorsitzender der AOK Rheinland/Hamburg
Matthias Mohrmann, stellvertretender Vorstandsvorsitzender der AOK Rheinland/Hamburg

Warum halten Sie SGB Reha für richtungsweisend in der Versorgung von Pflegebedürftigen?

Das Projekt soll Impulsgeber für eine inhaltliche Neugestaltung der Pflegeversicherung sein. Es zeigt, dass sich die Gesellschaft eine zugewandte und menschlichere Pflege leisten kann, ohne sich volkswirtschaftlich zu übernehmen. Eine individuelle Versorgungsplanung, die einen Fokus auf die Rehabilitation und Wiederherstellung verlorener Fähigkeiten legt, wäre ein echter Richtungswechsel. Dafür müssen allerdings die Grenzen zwischen der Kranken- und der Pflegeversicherung flexibler gestaltet werden, denn es ist sinnvoll, Therapie- und Rehabilitationsleistungen in die soziale Pflegeversicherung zu integrieren. Die therapeutisch-rehabilitative Pflege sollte als neuer Standard flächendeckend etabliert werden. Dabei ist es wichtig, dass die Therapien integraler Bestandteil des pflegerischen Alltags werden. Eine bloße Finanzierungsdiskussion wird der Komplexität der Aufgabe nicht gerecht, wir müssen die Pflege auch inhaltlich weiterentwickeln.

Also kann auch die Pflegeversicherung von diesem Modell profitieren?

Wenn Menschen mobiler werden und ein selbstbestimmteres Leben führen können, ist das zunächst ein großer Gewinn für sie selbst und für ihre Angehörigen. Aber ja, auch die Pflegeversicherung profitiert davon, wenn Pflegebedürftige einen niedrigeren Pflegegrad benötigen und weniger Unterstützung erforderlich ist. Und die Kommunen, die oft den - hohen - Eigenanteil der Versicherten übernehmen, werden entlastet. Um dies zu erreichen, sind therapeutische Maßnahmen wie Ergo- oder Physiotherapien erforderlich, für die nicht die Pflegekassen aufkommen, sondern die gegenwärtig über die Krankenversicherung finanziert werden. Aktuell ist es in unserem System also so, dass der eine Kostenträger finanziert, während andere profitieren. Dieses Prinzip ist nicht sinnvoll, es setzt falsche Anreize. Um das zu ändern, müssen neue rechtliche Grundlagen geschaffen werden.

Was bedeutet es für das Personal der Einrichtungen, wenn dort SGB Reha umgesetzt wird?

Über allem steht ein verändertes, ganzheitliches Verständnis von Pflege. Dazu zählt auch, dass Pflegeberufe attraktiver werden müssen. Und genau dafür bietet SGB Reha enormes Potenzial. Die intensive und strukturierte Zusammenarbeit der beteiligten Professionen und die zu erwartenden Therapieerfolge, zu denen die Mitarbeitenden in der Pflege den wesentlichen Beitrag leisten werden, wird die pflegerische Tätigkeit bereichern und die Arbeitszufriedenheit steigern. Davon profitiert dann wiederum die ganze Einrichtung. Damit einher geht eine höhere Wertschätzung von pflegebedürftigen Menschen und Pflegekräften. Es gewinnen alle.