Selbsthilfetagung 2022: Planetary Health – braucht die Erde Selbst-Hilfe?
Die Klimakrise bedroht zunehmend nicht nur den Planeten, sondern auch die Gesundheit. Inwieweit chronisch Kranke besonders stark betroffen sind, war das Thema der hybriden Selbsthilfe-Fachtagung des AOK-Bundesverbandes am 2. Dezember 2022 in Kooperation mit der BAG Selbsthilfe.
(02.12.22) Aktuelle Studien zeigen, dass die hohen Temperaturen in den vergangenen Sommern in Europa zu hunderttausenden hitzebedingten Sterbefällen geführt haben – allein in Deutschland sind es jährlich 20.000 Menschen, die an den Folgen der Hitze sterben. Somit fallen hierzulande mittlerweile deutlich mehr Menschen dem Klimawandel zum Opfer als dem Straßenverkehr. Zum ersten Mal seit Beginn des Untersuchungszeitraum im Jahr 1992 sei eine Übersterblichkeit aufgrund von Hitze in drei aufeinanderfolgenden Jahren aufgetreten, melden Forschende von Robert Koch-Institut Das Robert Koch-Institut (RKI) ist ein Bundesinstitut im Geschäftsbereich des Bundesministeriums für… (RKI Das Robert Koch-Institut (RKI) ist ein Bundesinstitut im Geschäftsbereich des Bundesministeriums für… ), Umweltbundesamt (UBA) und Deutschem Wetterdienst (DWD).
Doch was bedeuten die Auswirkungen des Klimawandelns für chronisch erkrankte und behinderte Menschen? Werden ihr Alltag und ihr Gesundheitszustand besonders stark durch extreme Klimasituationen beeinträchtigt? Und welche Lösungsansätze gibt es schon? Auf der jährlichen Selbsthilfe-Fachtagung des AOK Die AOK hat mit mehr als 20,9 Millionen Mitgliedern (Stand November 2021) als zweistärkste Kassenart… -Bundesverbandes informierten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie Experten aus dem Gesundheitswesen Das Gesundheitswesen umfasst alle Einrichtungen, die die Gesundheit der Bevölkerung erhalten,… und Betroffene aus der Selbsthilfe über den aktuellen Wissensstand beziehungsweise ihre eigenen Erfahrungen aus der Selbsthilfearbeit. „Planetary Health – braucht die Erde Selbst-Hilfe?“ – so lautete das Motto der diesjährigen AOK-Selbsthilfe-Fachtagung am 2. Dezember in Berlin.
Mitten in der Klimakrise
In ihrer Begrüßungsrede machte Carola Reimann, Vorstandsvorsitzende des AOK-Bundesverbandes die Relevanz des Themas deutlich: „Die Sommer der vergangenen Jahre zeigen: Wir befinden uns mitten in einer Klimakrise. Die Hitze und ihre Auswirkungen haben uns alle gesundheitlich mehr oder weniger schwer belastet“. Der Zusammenhang zwischen Klimakrise, Umwelt, Nachhaltigkeit und Gesundheit sei mittlerweile weltweit allgegenwärtig, so Reimann. „Auch wir als AOK sehen die Auswirkungen der Klimakrise auf die Gesundheit. Daher hat sich die AOK-Gemeinschaft das Ziel gegeben, Vorreiter beim Thema Nachhaltigkeit im Gesundheitswesen zu sein.“
Es sei hinlänglich bekannt, dass es insbesondere vulnerablen Gruppen – und dazu gehören chronisch kranke und behinderte Menschen – schwerfällt, hitzebedingte Belastungen zu bewältigen, so Claudia Schick, Selbsthilfe-Referentin des AOK-Bundesverbandes im Gespräch mit dem Moderator Michael Bernatek vom AOK-Bundesverband. „Wir wollen hier heute Lösungswege diskutieren, wie die Selbsthilfe einerseits ihre Mitglieder bei der Bewältigung der extremwetterbedingten Probleme unterstützen kann. Und was sie andererseits in ihren eigenen Organisationseinheiten unternehmen kann, um durch nachhaltiges Handeln zum Klima- und Umweltschutz beizutragen.“
Über die gesundheitlichen Auswirkungen des Klimawandels auf chronisch Erkrankte, aber auch die Möglichkeiten, diese abzufedern, sprach zum Auftakt der Veranstaltung die Umweltmedizinerin Prof. Dr. med. Claudia Traidl-Hoffmann. Als Professorin an der Medizinischen Fakultät der Universität Augsburg, Direktorin des Instituts für Umweltmedizin am Helmholtz Zentrum München und Direktorin der Hochschulambulanz für Umweltmedizin am Universitätsklinikum Augsburg erforscht sie durch Umweltfaktoren hervorgerufene und verstärkte Krankheiten, insbesondere Allergien.
„Die WHO teilt nicht übertragbare Erkrankungen in fünf Gruppen ein: kardiovaskuläre Erkrankungen, Krebs, Diabetes, chronisch respiratorische Erkrankungen wie beispielsweise Allergien sowie mentale Erkrankungen“, erklärte die Umweltmedizinerin in ihrem Impulsreferat. Allein diese fünf Gruppen seien für 71 Prozent der weltweiten Todesfälle verantwortlich. Nicht übertragbare Erkrankungen stünden im Fokus der WHO, weil Verlauf und Häufigkeit der Erkrankungen aktiv beinflussbar seien. „Ernährung und Sport sowie Tabak- und Alkoholkonsum sind die vier individuell gestaltbaren Faktoren – aber ein weiterer wichtiger Faktor für diese Erkrankungen sind Umwelteinflüsse wie Schadstoffe in der Luft oder im Trinkwasser oder auch zunehmende Hitzeperioden durch den Klimawandel“, verdeutlichte Traidl-Hoffmann. Aktuelle Untersuchungen hätten etwa ergeben, dass durch den Klimawandel die Allergiesaison deutlich verlängert wäre: „Es gibt quasi gar keine Tage mehr im Jahr ohne Pollenbelastung.“
Außerdem verstärkten die Pollen durch Luftschadstoffe ihre allergene Wirkung und durch das mildere Klima seien neue hochallergene Pflanzen wie Ambrosia hier heimisch geworden. Der Klimawandel bringt aber auch neue Erkrankungen wie etwa das West-Nil Fieber nach Deutschland – übertragen durch eine Mückenart, die bislang aufgrund der niedrigeren Durchschnittstemperatur hier nicht heimisch war. Nicht zuletzt seien die immer längeren Hitzeperioden zu nennen, die vor allem für Menschen mit einer Lungenerkrankung gefährlich werden können. „Das allergrößte Probleme mit der Hitze selbst ist aber unsere Ignoranz: Immer noch verbinden die meisten mit Hitze vor allem Strand und Eis essen“, betonte die Umweltmedizinerin. Während andere europäische Staaten bereits durch umfangreiche Hitzeaktionspläne auf die immer höher steigenden Temperaturen reagieren, sei hier die deutsche Politik bislang noch deutlich zu wenig tätig. Und auch den Kliniken des Landes erteilte Traidl-Hoffmann im Kampf gegen den Klimawandel überwiegend schlechte Noten – nur wenige Leuchtturm-Krankenhäuser hätten das Thema auf dem Schirm und unternähmen ernsthafte Anstrengungen.
Über die spezifischen Belastungen für chronisch Kranke berichteten im Anschluss Veronika Bäcker, Präsidentin der MigräneLiga e.V. Deutschland sowie Holger Westermann, Geschäftsführer der Deutschen Fibromyalgie Vereinigung. Bäcker machte darauf aufmerksam, dass in Deutschland rund zehn Millionen Menschen von wiederkehrenden Migräneanfällen betroffen sind – und dass starke Wetterumschwünge, wie sie der Klimawandel mit sich bringe, auch Auswirkungen auf die Häufigkeit, Dauer und Schwere des Anfalls habe. Auch Westermann bestätigte, dass gerade Schmerzpatienten unter dem Klimawandel im besonderen Maße litten. Zudem machte er darauf aufmerksam, dass immer mehr alte und somit oft multimorbide Menschen in den Städten wohne. Dies sei eine enorme Herausforderung, da in den Städten, die sich im Sommer ganz besonders stark aufheizen, zur Hitze noch weitere Belastungen hinzukämen, etwa durch Feinstaub oder Ozon.
AOK auf dem Weg in die Klimaneutralität
Über die Bemühungen der AOK-Gemeinschaft auf dem Weg zur klimaneutralen Krankenkasse referierte anschließend Annette Scheder. Die Beauftragte der AOKBayern für Umwelt, Klima und Nachhaltigkeit (UKN) kündigte an, dass die AOK Bayern bis spätestens 2030 klimaneutral arbeiten möchte. Dafür habe sich die Gesundheitskasse acht strategische Ziele gesetzt und über 30 Maßnahmen festgelegt, um diese zu erreichen.
Dazu gehören einfach umzusetzende Maßnahmen wie der Bezug von Ökostrom, der Ersatz alter Glühbirnen durch LED-Leuchtmittel oder der verstärkte Einsatz von recyceltem Papier – alles übrigens Maßnahmen, die auch Selbsthilfeorganisationen relativ leicht übernehmen könnten. Aber auch komplexere und somit finanzaufwändigere Vorhaben wie eine energieeffiziente Gebäudesanierung oder der Bau von Photovoltaikanlagen wurden bei der AOK Bayern bereits bei einigen Liegenschaften umgesetzt und werden bei anstehenden Sanierungen unter Beachtung von Wirtschaftlichkeitsaspekten mit bedacht. Neben den Bemühungen für das eigene Unternehmen verwies Scheder aber auch auf das Engagement der AOK, die eigenen Versicherten zu informieren und auf dem Weg in eine nachhaltigere Zukunft mitzunehmen. Aktionen wie „Mit dem Rad zur Arbeit“, die „Gemüse-Ackerdemie“ oder neue Module zu Klima- und Umweltschutz in den Präventionsprogrammen für Kinder wie „JolinchenKids“ oder „Henrietta in Fructonia“ würden das Thema zunehmend in den Blick rücken.
In der anschließenden Podiumsdiskussion gesellte sich Dr. Martin Danner, Geschäftsführer der BAG Selbsthilfe und Initiator des Projekts „Klimawandel und Selbsthilfearbeit“ zu den Rednern des Vormittags. Danner, Traidl-Hoffmann, Scheder und die per Livestream zugeschaltete Wissenschaftlerin Maike Voss, Geschäftsführerin von Klug, diskutierten mit dem Publikum über die Konsequenzen, die nun gesellschaftspolitisch aber auch ganz konkret in der Selbsthilfearbeit gezogen werden müssten.
So machte Voss etwa darauf aufmerksam, dass das Wirtschaftlichkeitsgebot Das Wirtschaftlichkeitsgebot ist wie das Gebot der Qualität ein wesentlicher Maßstab für die… im Gesundheitswesen es den Akteuren oft schwermache, klimafreundlicher zu agieren. Die Kosten alleine im Blick zu behalten, reiche angesichts des Klimawandels nicht mehr aus: „Die Politik muss das Wirtschaftlichkeitsgebot im Gesundheitswesen flankieren durch ein Nachhaltigkeitsgebot“, so Voss.
Am Nachmittag konnten sich dann abschließend sowohl Besucherinnen und Besucher vor Ort als auch digital an der Veranstaltung Teilnehmende in Workshops darüber austauschen, welche Maßnahmen die Selbsthilfe realistischerweise selbst durchführen kann, um verstärkt klimaneutral zu arbeiten. Dabei wurde auch verdeutlicht, wo die Selbsthilfe Unterstützung von der Politik und dem Gesundheitssystem oder den Krankenkassen Die 97 Krankenkassen (Stand: 26.01.22) in der gesetzlichen Krankenversicherung verteilen sich auf… benötigt.
Das Programm der Selbsthilfetagung 2022 | |
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Begrüßung | Claudia Schick Referentin Prävention/Selbsthilfeförderung des AOK Bundesverband |
Grußwort | Dr. Carola Reimann Vorstandsvorsitzende des AOK-Bundesverband |
Keynote | Prof. Dr. Claudia Traidl-Hoffmann Universität Augsburg, Direktorin der Ambulanz für Umweltmedizin: „Klimagerechtigkeit und planetare Gesundheit“ |
Im Gespräch | Ergebnisse des Projektes "Klimawandel und Selbsthilfearbeit" Veronika Bäcker Präsidentin der MigräneLiga e.V. Deutschland Holger Westermann Geschäftsführer der Deutschen Fibromyalgie Vereinigung (DFV) e.V. Dorothea Baltruks Wissenschaftliche Mitarbeiterin der Deutschen Allianz Klimawandel und Gesundheit (KLUG) Moderation: Michael Bernatek (AOK-Bundesverband) |
Impuls | Herausforderungen der AOK angesichts des klimatischen Veränderungen der Erde Dr. Annette Scheder Beauftragte und Expertin für UKN (Umwelt, Klima, Nachhaltigkeit) der AOK Bayern |
Workshops | Selbsthilfe in Zeiten des Klimawandels: Welche gesundheitlichen Auswirkungen haben die extremen Veränderungen des Klimas für Sie? Wo müssen die Verantwortlichen aktiv werden? Was müsste sich in der Versorgung chronisch Kranker ändern aufgrund des Klimawandels? Welche Möglichkeiten gibt es aus Sicht der Selbsthilfe ihre Arbeit und die Versorgung nachhaltiger zu gestalten? Wie können auch Sie und Ihre Mitglieder aktiv zur Nachhaltigkeit beitragen? |
Bühne frei | Lösungen für die Selbst-Hilfe der Erde: Ergebnispräsentation aus den Workshops |
Paneldiskussion | Braucht die Erde Selbst-Hilfe? Was muss geschehen um die Gesundheit der Menschen und der Erde zu schützen? Braucht es eine Selbsthilfegruppe gesunde Erde? Es debattieren: Dr. Martin Danner Bundesgeschäftsführer der Bundesarbeitsgemeinschaft SELBSTHILFE von Menschen mit Behinderung und chronischer Erkrankung und ihren Angehörigen e.V. (BAG SELBSTHILFE) Prof. Dr. Claudia Traidl- Hoffmann Universität Augsburg, Direktorin der Ambulanz für Umweltmedizin Maike Voss Geschäftsführung und wissenschaftliche Politikberatung der Deutschen Allianz Klimawandel und Gesundheit (KLUG) Dr. Annette Scheder Beauftragte und Expertin für UKN (Umwelt, Klima, Nachhaltigkeit) der AOK Bayern |
Tagesabschluss | Claudia Schick und Michael Bernatek |