„Gesundheit gerecht gestalten“ - Berliner Gesundheitspreis 2023 verliehen
Seit Jahrzehnten belegen Studien, dass Menschen mit niedriger Bildung oder Migrationshintergrund oft stärker gesundheitlich belastet sind. Unter dem Motto „Gesundheit gerecht gestalten“ zeichneten der AOK-Bundesverband und die Ärztekammer Berlin vier innovative Projekte mit dem Berliner Gesundheitspreis 2023 aus.
Noch immer sind Gesundheitschancen in Deutschland ungleich verteilt. Beim Berliner Gesundheitspreis 2023 drehte sich deshalb alles um die Frage, wie sich Gesundheit gerecht gestalten lässt.
Soziale Benachteiligung kann krankmachen. Studien belegen, dass Menschen in prekären Lebensumständen oft auch gesundheitlich stärker belastet sind. Sie sind häufiger und länger krank, leben ungesünder und finden sich weniger gut im Gesundheitssystem zurecht.
Soziale und gesundheitliche Ungleichheit gehen oft Hand in Hand und stellen den Sozialstaat vor große Herausforderungen. Denn das Gesundheitswesen Das Gesundheitswesen umfasst alle Einrichtungen, die die Gesundheit der Bevölkerung erhalten,… stößt an seine Grenzen, wenn die Lebensumstände der Menschen eine gesunde Lebensweise nicht unterstützen. Damit Menschen gesund leben und gesund bleiben können, müssen neben den gesundheitlichen auch die sozialen Probleme frühzeitig, nachhaltig und umfassend angegangen werden. Hier sind Politik und Sozialleistungsträger gemeinsam gefordert, in allen Bereichen ressortübergreifend zu handeln.
Die Preisträger
Gute Lebensverhältnisse und Chancengleichheit sind die Voraussetzung, um auch bei der Gesundheit Gerechtigkeit zu schaffen. Gerade in Regionen mit vielen sozialen Herausforderungen fehlen oft bedarfsgerechte Angebote. Die Teilnehmenden des Berliner Gesundheitspreises 2023 sind angetreten, um das zu ändern: Sie haben nachhaltige Ansätze entwickelt, damit sich soziale und gesundheitliche Akteure besser vernetzen und Menschen in schwierigen Lebenslagen gemeinsam Wege zu gesünderen Lebensbedingungen ebnen können. Eine hochkarätig besetzte Jury hat aus allen Einsendungen vier richtungsweisende Projekte ausgewählt und zwei erste Preise sowie zwei Sonderpreise vergeben.
Erster Preis: open.med – Ärzte der Welt, München
Gesundheit ist hierzulande oft nicht gerecht. Das gilt besonders für diejenigen, die wenig privilegiert sind. Eigentlich ist es eine Aufgabe des Staates, dafür zu sorgen, dass alle Menschen eine angemessene gesundheitliche Versorgung erhalten. Und doch gibt es auch in Deutschland Menschen, die keine Krankenversicherung haben. Um sie kümmert sich in München der Verein „Ärzte der Welt“ mit seinem Projekt open.med. Nach dem erfolgreichen Start von „open.med“ in München unterhält der Verein „Ärzte der Welt“ mittlerweile auch Anlaufstellen in Hamburg (zusammen mit Hoffnungsorte e. V.) und Stuttgart (zusammen mit Ambulante Hilfe e. V.). Mitte Juni 2023 wurde eine Praxis in Berlin-Lichtenberg eröffnet.
Wie open.med hilft
Das Team von open.med setzt alle Hebel in Bewegung, um Menschen ohne Zugang zur Gesundheitsversorgung zu unterstützen.
Ein älterer Mann aus Spanien stellt sich mit starken Schmerzen beim Behandlungsbus vor. Das open.med-Team vermutet eine Harnwegsinfektion. Der Patient hat weder Geld noch Papiere und auch keine Krankenversicherung. Er bekommt Schmerzmittel und Antibiotika. Weil sich die Beschwerden nicht bessern, wird er an eine kooperierende Klinik vermittelt. Die Ärzte dort diagnostizieren einen fortgeschrittenen Blasentumor, der dringend operiert werden muss. Ohne Krankenversicherung ist das aber nicht möglich.
Das open.med-Team nimmt Kontakt mit dem Konsulat auf, das dem Patienten nach intensiven Gesprächen einen neuen Reisepass ausfertigt. Beim Sozialamt wird ein Antrag auf Sozialhilfe und Krankenversicherungsschutz gestellt. Anschließend kann der Patient stationär aufgenommen und operiert werden.
Erster Preis: Stadtteilgesundheitszentrum Neukölln, Gesundheitskollektiv Berlin e. V., Poliklinik Veddel, Gruppe für Stadtteilgesundheit und Verhältnisprävention e. V.
Fehlende soziale Perspektiven und schlechte Lebensverhältnisse wirken sich unmittelbar auf die Gesundheit der Menschen aus. Darum lassen sich gesundheitliche Probleme nicht isoliert von der sozialen Lage lösen. Um Krankheiten vorzubeugen, die Genesung zu unterstützen und die Chronifizierung von Erkrankungen zu vermeiden, müssen medizinische Maßnahmen und soziale Unterstützungsangebote ineinandergreifen. Wie das funktionieren kann, zeigen Stadtteilgesundheitszentren in Hamburg und Berlin.
Die Idee der Stadtteilgesundheitszentren überzeugt mehr und mehr Akteurinnen. Da die Projekte in Hamburg und Berlin zeigen, dass das Modell umsetzbar und übertragbar ist, ist das Konzept bereits in mehrere Koalitionsverträge und Regierungsprogramme aufgenommen worden (zum Beispiel in Berlin, Hamburg, Bremen und Baden-Württemberg).
Das Basismodell: ausbaufähig und skalierbar
Das Konzept der Stadtteilgesundheitszentren beruht auf einem Basismodell, das als „Blaupause“ für den Aufbau weiterer Zentren dienen kann. Dieses Basismodell umfasst drei Arbeitsbereiche, die gemeinsam den Kern der interprofessionellen Stadtteilzentren bilden.
Wer ein solches Zentrum aufsucht, soll dort alle notwendige Unterstützung vorfinden. Im Bereich der Primärversorgung Unter Primärversorgung wird die gesundheitliche Grundversorgung und Beratung verstanden, in der auch… heißt das: Hausarztpraxis, psychologische Beratung und Therapie, Pflege Kann die häusliche Pflege nicht im erforderlichen Umfang erbracht werden, besteht Anspruch auf… und aufsuchende Gesundheitsförderung ist ein fortlaufender Prozess mit dem Ziel, allen Menschen ein höheres Maß an Selbstbestimmung über… (durch Gemeinwesenarbeiterinnen und -arbeiter) sowie soziale Arbeit (Einzelfallhilfe) sind unter einem Dach versammelt. Die Ratsuchenden können auf kurzen Wegen an die benötigten Ansprechpartner vermittelt werden. Bei komplexen Versorgungsbedarfen übernimmt eine Profession federführend die Koordination der multiprofessionellen Versorgung.
Ziel der Gemeinwesenarbeit ist es, gemeinsam mit den Bewohnerinnen und Bewohnern darauf hinzuwirken, die Lebensbedingungen im jeweiligen Stadtteil besser und gesundheitsförderlicher zu gestalten. Dabei geht es unter anderem darum, Missstände zu identifizieren und nach Lösungen dafür zu suchen – von hohen Mieten über Drogenprobleme im Viertel bis Erfahrungen mit alltäglichem Rassismus.
Eine zentrale Verwaltung koordiniert die interprofessionelle Zusammenarbeit, entwickelt Standards für die interprofessionelle Kommunikation und Dokumentation, steuert die interne Qualitätssicherung a) Qualitätssicherung in der gesetzlichen Krankenversicherung: Vertragsärzte, Krankenhäuser und… und übernimmt die Öffentlichkeitsarbeit für das Zentrum.
Jede benachteiligte Region, jeder benachteiligte Stadtteil hat unterschiedliche Probleme und Bedarfe. Das Konzept der Stadtteilgesundheitszentren sieht darum ausdrücklich vor, das Basismodell je nach Standort flexibel und bedarfsorientiert um weitere Module – in Hamburg beispielsweise um eine Hebammenpraxis – zu ergänzen.
Sonderpreis: Arztpraxisinterne Sozialberatung – „soziale Gesundheit“, Berlin-Lichtenberg
Für Menschen mit gesundheitlichen und sozialen Problemen gibt es viele unterschiedliche Hilfen und Unterstützungsangebote. Doch gerade Menschen in schwierigen Lebenssituationen kennen diese Angebote oft nicht oder schaffen es nicht, sie in Anspruch zu nehmen. Das stellt auch Hausarztpraxen vor große Herausforderungen. Vor allem in sozial benachteiligten Stadtteilen ist der Anteil der Patienten, die sehr viel mehr als nur ärztliche Hilfe brauchen, hoch. Ein innovatives Beratungsangebot in Berlin setzt darum in den Arztpraxen an, bringt medizinische Versorgung und soziale Hilfen zusammen. So können die Menschen mehr Energie in ihre Gesundheit investieren, was den Therapieerfolg stärkt.
Hilfe nach Maß
Oft müssen viele unterschiedliche Unterstützungsangebote koordiniert werden, um die Lebenssituation der Betroffenen zu verbessern.
Seit Jahren pflegt eine ältere Frau ihren schwerkranken Ehemann. Dessen Gesundheitszustand verschlechtert sich zusehends. Auch die physische und psychische Gesundheit der Ehefrau ist angegriffen. Hinzu kommen Geldsorgen.
Um das Ehepaar zu unterstützen, kontaktiert und koordiniert die Sozialberatung verschiedene Akteure: Für den Ehemann wird die inzwischen notwendige Palliativpflege organisiert. Auch ein ehrenamtlicher Hospizdienst wird einbezogen. Um die Gesundheit der Ehefrau kümmert sich das Team der Hausarztpraxis. Um die finanzielle Belastung zu verringern, nimmt die Sozialberatung Kontakt mit dem Sozialamt und der Wohngeldstelle des Bezirks sowie dem Versorgungsamt auf.
Wie wirkt sich die Beratung aus?
Zwischen Januar und September 2021 befragte das Institut für Gerontologische Forschung e. V. 28 Menschen zwischen 64 und 92 Jahren, die die Arztpraxisinterne Sozialberatung in Anspruch genommen hatten. Die Mehrheit gab an, dass sich ihre Situation durch die Beratung teilweise oder deutlich verbessert habe.
Sonderpreis: Kooperationsnetzwerk SGB-übergreifende familienorientierte Versorgung für von psychischen und Suchterkrankungen betroffene Familien
Die Verbindung sozialer und gesundheitlicher Versorgung kann nur gelingen, wenn Akteure sich vor Ort vernetzen und quer über die Grenzen der Sozialgesetzbücher hinweg zusammenarbeiten. Ein Netzwerk, das Familien mit psychisch oder suchtkranken Eltern unterstützt, sucht nach Wegen, eine interdisziplinäre Kooperation der unterschiedlichen Hilfe- und Versorgungssysteme zu fördern und zu verstetigen.
Einsatz für eine bessere Versorgung
Damit die Kinder von psychisch, sucht- und/oder chronisch erkrankten Vätern oder Müttern trotz der gesundheitlichen Probleme ihrer Eltern gesund aufwachsen können, benötigen ihre Familien ein tragfähiges Netz aus koordinierten systemübergreifenden Hilfen. Das Kooperationsnetzwerk will die SGB-übergreifende interdisziplinäre Kooperation der Hilfe- und Versorgungssysteme für Kinder psychisch und suchtkranker Eltern erleichtern und strukturell verankern. Dafür wird es auf unterschiedlichen Handlungsfeldern aktiv.
Das Kooperationsnetzwerk
- organisiert interdisziplinäre, systemübergreifende Vernetzungstreffen und Fachgespräche mit Teilnehmenden aus Fachverbänden, Praxis, Wissenschaft und Politik
- beteiligt sich an SGB-Reformprozessen
- arbeitet in bundesweiten und regionalen Netzwerken mit
Das Kooperationsnetzwerk
- veranstaltet interdisziplinäre, multiprofessionelle Expertenrunden zur möglichen Ausgestaltung komplexer SGB-übergreifender Leistungen für Familien
- analysiert anhand bereits implementierter SGB-übergreifender Komplexleistungen mögliche Faktoren zum Erreichen des Ziels und Hindernisse
Das Kooperationsnetzwerk
- führt Grundlagen- und anwendungsbezogene Forschungsprojekte zu den Effekten SGB-übergreifender Leistungen auf die Gesundheit von Familien und Kindern durch und präsentiert die Ergebnisse auf nationalen und internationalen Tagungen
- arbeitet an der Vernetzung entsprechender Fort- und Weiterbildungscurricula, die bei den beteiligten Fachgesellschaften bereits bestehen
Das Kooperationsnetzwerk
- richtet verbändeübergreifende politische Fachtagungen aus, bei denen Best-Practice-Beispiele aus der Praxis vorgestellt und diskutiert werden
Das Kooperationsnetzwerk
- hat den vierteiligen Podcast „Und wer fragt mich?“ erstellt, in dem eine betroffene Familie ihre Situation schildert und Vertreter verschiedener Sozialsysteme ihre Expertise beisteuern
- hat eine Postkartenaktion mit den visualisierten Ergebnissen der ersten Fachtagung initiiert, um so Vertreter von Politik, Ländern, Kommunen und Kostenträgern für das Thema zu sensibilisieren
Die Aufzeichnung der Preisverleihung am 21. Juni 2023
Die Mitglieder der Jury
- Jana Bauer - Bundeskoordinatorin Gesundes Städtenetzwerk
- PD Dr. Peter Bobbert - Präsident Ärztekammer Berlin
- Lisa Braun - Geschäftsführerin Presseagentur Gesundheit
- Prof. Dr. Nico Dragano - Direktor Institut für medizinische Soziologie, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
- Prof. Dr. Ferdinand Gerlach - Institut für Allgemeinmedizin, Goethe-Universität Frankfurt am Main
- Prof. Dr. Christian Janßen - Hochschule für angewandte Wissenschaften München, Lehrgebiet Prävention Prävention bezeichnet gesundheitspolitische Strategien und Maßnahmen, die darauf abzielen,… und Gesundheitsförderung
- Maria Klein-Schmeink, MdB - Stellvertretende Vorsitzende, Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen
- Prof. Dr. Petra Kolip - Mitglied wissenschaftlicher Beirat des RKI Das Robert Koch-Institut (RKI) ist ein Bundesinstitut im Geschäftsbereich des Bundesministeriums für… , Universität Bielefeld, Fakultät für Gesundheitswissenschaften
- Dr. Gerd Landsberg - Hauptgeschäftsführer Deutscher Städte- und Gemeindebund e. V.
- Dr. Johannes Nießen - Geschäftsführender Vorstand Bundesverband der Ärztinnen und Ärzte des ÖGD e. V.
- Prof. Dr. Rolf Rosenbrock - Vorsitzender Paritätischer Wohlfahrtsverband Gesamtverband e. V.
- Dagmar Schmidt, MdB - Stellvertretende Fraktionsvorsitzende, SPD-Fraktion
- Dr. Susanne Wagenmann - Vorsitzende des Aufsichtsrates, AOK Die AOK hat mit mehr als 20,9 Millionen Mitgliedern (Stand November 2021) als zweistärkste Kassenart… -Bundesverband (Arbeitgeber)
Der Berliner Gesundheitspreis 2023 hat Projekte in den Fokus gerückt, die richtungsweisende Ansätze zur Vernetzung zwischen sozialen und gesundheitlichen Akteuren entwickelt und umgesetzt haben. Diese Leuchtturmprojekte zeigen, wie verhindert werden kann, dass ungünstige soziale Umstände zu gesundheitlichen Problemen führen. Dafür bedarf es einer gesamtgesellschaftlichen Anstrengung, um das Recht auf gleiche Gesundheitschancen, gesundheitsförderliche Lebensgrundlagen, zielgruppenspezifische Angebote und einen niederschwelligen Zugang zur Gesundheitsbildung und -versorgung für alle Menschen gleichermaßen und nachhaltig zu stärken.