Die Gesundheit der Kinder ist gesamtgesellschaftliche Aufgabe
Der WIdOmonitor „Auswirkungen der Covid-19-Pandemie auf die psychische Gesundheit von Kindern“ zeichnet ein zweigeteiltes Bild. Körperlich ist die Mehrheit der Kinder relativ gut durch die Pandemie gekommen. Psychisch scheinen die Folgen doch erheblicher gewesen zu sein. „Deutschland muss massiv in seine Kinder investieren“, sagt Dr. Susanne Kuger vom Deutschen Jugendinstitut (DJI) im Gespräch mit dem AOK-Medienservice (ams).
Frau Dr. Kuger: Wie ordnen Sie die Ergebnisse des WIdOmonitor insgesamt ein?
Kuger: Die Ergebnisse decken sich größtenteils mit dem, was wir aus anderen Studien kennen. Das deutet alles in die Richtung, dass die Befunde der Umfrage, so besorgniserregend dies für die psychologische Entwicklung der Kinder ist, durchaus realistisch sind. Ich würde nicht ganz zustimmen bei den Befunden zur körperlichen Gesundheit. Wir wissen aus anderen Erhebungen ja durchaus, dass der Bewegungsmangel vor allen Dingen in den ersten Lockdowns doch zu enormen motorischen Defiziten und zu Gewichtsproblemen bei Kindern und Jugendlichen in substanziellen Umfang geführt haben.
Könnte man sagen, dass die befragten Mütter etwas gnädiger auf die körperliche Entwicklung ihrer Kinder schauen?
Kuger: Ja, vielleicht, aber auch das Problem gar nicht erkennen. Vielleicht ist den Eltern das gar nicht so bewusst, ab wann ein Kind Bock springen können sollte, ab wann es rückwärts gehen können sollte, und dass viele es eben nicht mehr entwicklungsgerecht können. Eltern haben ja auch weniger Vergleichsmöglichkeiten als Lehr- und Erziehungskräfte in Schule und Kita.
Wie so oft zeigt sich auch hier ein deutliches soziales Gefälle. Was lässt sich dem aus Ihrer Sicht entgegensetzen?
Kuger: Das ist ein echtes Problem. Dem begegnen können wir nur, wenn wir eben dort massiv investieren, was wir in Deutschland wohl noch nicht ausreichend tun. In den Niederlanden etwa herrscht die beste Qualität ist ein zentrales Versorgungsziel der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Im Rahmen der… in den Kitas, die einen hohen Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund oder aus sozial schwachen Familien betreuen. Großbritannien schafft das auch. In London gibt es den schönen Befund, dass die „schwachen“ Kitas die beste Qualität haben. Über Deutschland wissen wir seit 15 Jahren, dass die Situation sich gerade umgekehrt darstellt. Wir haben in diesen Kitas die schlechteste Qualität. Und selbst die guten Projekte, die es gibt – das BRISE-Projekt in Bremen beispielsweise – haben Probleme, an die schwächsten Familien ranzukommen und die guten Unterstützungsangebote, die sie vorhalten, an die Familien heranzutragen, die es am meisten brauchen.
Lassen sich zum jetzigen Zeitpunkt schon Aussagen über die langfristigen Folgen treffen?
Kuger: Einen wichtigen Befund kann man sicherlich aus dem IQB-Bildungstrend ablesen, der vor wenigen Wochen veröffentlicht wurde, bei dem unter anderem klar wurde, dass es wiederum die benachteiligten Kinder sind, die die größten Rückstände aufweisen; wir sehen Lernrückstände in der vierten Klasse von etwa einem halben Jahr. Wenn man weiß, dass sich Rückstände im weiteren Verlauf der Bildungskarriere eher auf- als abbauen, kann man sich vorstellen, dass bis zum Ende des Schullebens substanzielle Lernrückstände vorhanden sein werden, von denen nicht klar ist, ob sie kompensiert werden können. Insofern gibt es, was die kognitive Entwicklung angeht, mit Sicherheit langfristige Folgen bei einem nicht geringen Teil der jetzigen Schülergeneration. Was die körperliche Situation angeht, ist möglicherweise mehr aufholbar. Aber dafür müssten jetzt natürlich auch substanzielle Programme im großen Stil greifen. Die Aufholpakte der Bundesregierung gibt es. Da wurden viele Initiativen gestartet. aber Wissenschaft und Politik wissen leider viel zu wenig darüber, was dort gemacht wird, und ob das überhaupt wirkt.
Würden Sie sich dort mehr Unterstützung von Regierungsseite wünschen?
Kuger: Absolut! Die letzte Stellungnahme der ständigen wissenschaftlichen Kommission der Kultusministerkonferenz hat genau das zum Kern: Interventionen, Maßnahmen, die ergriffen werden, müssen viel besser begleitet und evaluiert werden, weil sonst zu befürchten ist, dass wir zu häufig Geld in Maßnahmen stecken, deren Wirkung nicht gesichert ist.
Wie hilft man den Kindern, die jetzt akut psychisch unter der Pandemie und deren Folgen leiden?
Kuger: Ich würde zunächst sagen: Die Hilfsangebote nutzen, die existieren. Da hat mich tatsächlich im WIdOmonitor überrascht, wie unterschiedlich die Erwartungen an unterschiedliche Akteure sind. Es hat mich gefreut, dass Eltern sagen: „Auch der Sportverein kann uns helfen.“ Es ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, den Kindern und Jugendlichen da raus zu helfen. Der Wille in unserer Gesellschaft, Kindern und Jugendlichen ihre verbrieften Rechte einzulösen, ist allerdings noch nicht so ausgeprägt, wie er sein könnte. Ein befreundeter Kollege aus den Niederlanden hat mir erzählt: Dieses kleine Land mit seinen 17 Millionen Einwohnern hat ein Kinder-und-Jugend-Entlastungspaket von fünf Milliarden Euro geschnürt. Würden wir das rein bevölkerungsmäßig umlegen auf Deutschland, wären wir bei 24 Milliarden.
Corona wird womöglich nicht die letzte Krise sein, mit der wir umzugehen haben. „Ukraine“ ist nur ein Stichwort. Kann man Kinder und Jugendliche grundsätzlich auf solche Situationen vorbereiten? Selbst uns Erwachsene treffen Krisen ja auch oft unvorbereitet und dann mit Wucht?
Kuger: Die beste Option ist, an den Stärken anzusetzen, ohne die Augen vor den Schwächen zu verschließen. Man sieht das auch in den Befunden des WIdOmonitor: Es gibt Aspekte, die zeigen, dass Kinder in der Krise auch wachsen, indem sie davon profitieren, dass sie gefordert, aber auch begleitet werden. Ein bislang wenig diskutiertes Problem nennen Sie selbst und das ist, wie groß der Anteil der Erwachsenen ist; deren Probleme mit Krisen übertragen sich auf Kinder. Wenn die Eltern nicht krisenfest sind, weil ihre Jobs in Gefahr sind, weil sie nicht wissen, wie sie Beruf und Familie vereinbaren sollen, wenn die Kita zu macht, weil sie selbst die Fähigkeit nicht haben, sich in einer schnell veränderten Welt zurechtzufinden, dann überträgt sich das auf Kinder. Insofern steckt in diesen Daten – auch weil Eltern die Antworten für ihre Kinder abgegeben haben – beides: die Probleme der Eltern und die Probleme der Kinder. Wir müssen also weiter den Kindern, aber auch den Eltern mit ihren Kindern Hilfsangebote zu machen. Da müsste substanziell investiert werden, um z.B. die langen Wartelisten für Therapieplätze zu reduzieren oder Familien in ihrer besonders vulnerablen Lage mehr Solidarität entgegenzubringen. Gleichzeitig glaube ich, dass wir auch bei den Erwachsenen allgemein ansetzen müssen. Wir müssen lernen, dass die Welt nicht mehr so ist, wie sie vor 20 Jahren einmal war. Wandel ist die neue Stabilität; und wir müssen anfangen, uns damit einzurichten.