Wir müssen das Kindeswohl an erster Stelle denken
Erst die Pandemie, dann die globalen Krisen: Für Familien bleibt die Situation angespannt. Mit Folgen für die Psyche der Kinder. Professorin Ulrike Ravens-Sieberer von der Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) und Mitautorin der AOK-Familienstudie 2022 fordert im Interview mit dem AOK-Medienservice (ams), dass die Politik die junge Generation endlich in den Fokus rückt.
Frau Ravens-Sieberer, die AOK-Familienstudie zeigt eine Verschlechterung der Situation der Familien infolge der Pandemie. Wie schwierig ist die Lage?
Ravens-Sieberer: Die Pandemie hat ganz klar ihre Spuren hinterlassen. 2018 gab es eine Verbesserung gegenüber der Befragung vier Jahre zuvor. Die neue Studie zeigt jetzt deutliche Veränderungen, also eine Verschlechterung im Vergleich zu 2018. Die Pandemie und vielleicht auch andere Krisen haben Kraft gekostet. Die Situation ist noch nicht dramatisch, aber wir haben einen Zustand, den man ernst nehmen muss. Wir müssen gut überlegen, wie man die Familien gut unterstützen kann.
Rechnen Sie mit einer Besserung durch den Wegfall der Corona-Einschränkungen?
Ravens-Sieberer: Das ist insgesamt schwer zu beantworten. Aber ich gehe davon aus, dass wir nicht so schnell ein Niveau wie vor der Pandemie erreichen. Während der Studie waren Corona-Einschränkungen schon zum Teil aufgehoben und wurden weiter aufgehoben. So hat sich der Alltag der Familien in dieser Hinsicht verbessert. Das kann die AOK Die AOK hat mit mehr als 20,9 Millionen Mitgliedern (Stand November 2021) als zweistärkste Kassenart… -Studie allerdings noch nicht abbilden. Wir wissen aber aus anderen Studien, dass es die Familien entlastet, wenn sich der Alltag normalisiert. Allerdings steht mittlerweile gar nicht mehr die Corona-Pandemie im Vordergrund, sondern es sind andere Krisen, die zunehmend Sorgen machen. Viele Familien haben mit finanziellen Belastungen zu kämpfen, zum Beispiel durch steigende Preise für Energie. Und dann haben wir zurzeit eine Häufung von externen belastenden Ereignissen, die sich mittelbar oder unmittelbar auf unseren Alltag auswirken und Sorgen in die Familien tragen. Es geht also gar nicht mehr primär um die Corona-Pandemie mit ihren Einschränkungen, die viel ausgelöst und verschlechtert hat. Selbst wenn wir also Erleichterungen durch wegfallende Corona-Einschränkungen berücksichtigen, bleiben die Werte auf einem hohen Niveau. Das liegt daran, dass eben andere krisenhafte Zustände dazugekommen sind, die in anderer Weise als Corona den Alltag der Familien beeinträchtigen. Es gibt ein ganzes Bündel an äußeren Bedingungen, die den Familien die Zukunft erschweren. Das erhöht die finanzielle, psychische und partnerschaftliche Belastung. Unsichere Zukunftsaussichten erhöhen den Druck auf und in den Familien. Die Krisen bringen auch wirtschaftliche Konsequenzen, die Planbarkeit nimmt ab, und das verstärkt die Sorgen das Gefühl, dass die Last auf einen selber zunimmt. Es geht weniger um den körperlichen Gesundheitszustand als vielmehr um psychische, seelische Ressourcen, sowohl bei Kindern und Jugendlichen als auch bei den Eltern. Dabei spielt auch der sozioökonomische Status eine Rolle. Jene Familien, die vorher das Gefühl hatten, dass sie Ressourcen haben, sind existenziell nicht so belastet.
Also eher ein Fortschreiten der negativen Entwicklung ...
Ravens-Sieberer: Auf jeden Fall müssen Familien jetzt besonders unterstützt werden, damit Belastungen unter anderem auch aufgrund diverser globaler Krisen kompensiert werden können. Das ist vor allem vor dem Hintergrund zu sehen, dass Familien durch Corona schon großen Belastungen ausgesetzt waren. Die Belastung ist also weiterhin hoch und wir müssen davon ausgehen, dass sie ohne gesellschaftliche Unterstützung für Kinder und Eltern weiter zunimmt.
Laut der Befragung haben psychosomatische Beschwerden zugenommen. Wie lässt sich das erklären?
Ravens-Sieberer: In den Beschwerden der Kinder spiegelt sich ganz eindeutig die Belastung der Eltern. Kinder und Jugendliche spüren sehr genau, wenn sich Eltern Sorgen machen und großen Belastungen ausgesetzt sind. Sie berichten von einem verminderten psychischen und sozialen Wohlbefinden, also von verminderter Lebensqualität. Das drückt sich etwa in Einschlafproblemen, Kopf- oder Bauschmerzen aus. Das betrifft vor allem kleinere Kinder. Zugleich hat der Bedarf an Psychotherapie zugenommen. Wir haben in dieser Studie zwar nicht Symptome für psychische Krankheitsbilder gemessen, aber die Ergebnisse sind Indikatoren dafür, wie seelisch stabil die Kinder sind. Wir hatten in den Befragungen durch die Eltern einen höheren Anteil von Kindern, die das Wohlbefinden infolge der Corona-Einschränkungen als eingeschränkt bezeichnet haben, vor allem aus niedrigeren sozialen Schichten. In anderen Studien mit älteren Kindern, die direkt befragt wurden, sind es fast noch mehr, auch international.
Wie kann die Situation der Kinder verbessert werden?
Ravens-Sieberer: Ein gutes Familienklima, Zeit für die Kinder, Aufmerksamkeit, tägliche Rituale, eine Struktur, an die sich alle halten – all das ist der seelischen Gesundheit der Kinder förderlich. Das war bei Befragung nicht mehr so präsent, es gab anscheinend deutlich weniger Zeiten, in denen man sich einander wirklich zugewendet hat. Gleichzeitig nutzten die Kinder deutlich mehr digitale Kommunikationskanäle, was wegen der Ausgangseinschränkungen allerdings auch nützlich war und Kommunikation mit Freunden ermöglicht hat. Eltern waren durch Homeoffice und Homeschooling belastet. Zudem fühlen sich viele Erwachsene in ihrer Elternrolle nicht mehr sicher. Das ist nicht dramatisch, aber wir sehen hier einen Trend. Generell lässt sich aber sagen, dass psychosomatische Beschwerden abnehmen, wenn Eltern es schaffen, gemeinsame Familienerlebnisse zu etablieren und ihren Kindern Wertschätzung zu zeigen, familiäre Ressourcen heben. Damit tun sie etwas für die Gesundheit ihrer Kinder. Das ist unabhängig von der sozialen Schicht.
Wo sehen Sie hier die Aufgabe der Politik?
Ravens-Sieberer: Vor allem müssen die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für Kinder und ihre Eltern verbessert werden. Kinder dürfen nicht wie in der Corona-Pandemie immer wieder die Leidtragenden in Krisenzeiten sein, wir müssen bei allen politischen Maßnahmen endlich das Kindeswohl an erster Stelle denken. Dafür braucht es eine langfristige Strategie. Sportvereine, Schwimmbäder müssen für Kinder zugänglich sein. Ganztagsschulen, der Ausbau schulpsychologischer und sozialer Dienste an den Schulen wären wichtige Ziele. Das trifft auch auf die Gesundheitsförderung ist ein fortlaufender Prozess mit dem Ziel, allen Menschen ein höheres Maß an Selbstbestimmung über… und Prävention Prävention bezeichnet gesundheitspolitische Strategien und Maßnahmen, die darauf abzielen,… in Kitas und Schulen zu. Um alle Kinder zu erreichen, ist die Schule ein guter Ort.