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BVerfG 18.12.2023 - 2 BvR 1816/22
BVerfG 18.12.2023 - 2 BvR 1816/22 - Stattgebender Kammerbeschluss: Grundrechtsverletzung durch Missachtung der Benachrichtigungspflicht gem Art 104 Abs 4 GG im Falle der Anordnung von Überstellungshaft - teilweise Parallelentscheidung
Normen
Art 104 Abs 4 GG, § 93c Abs 1 S 1 BVerfGG
Vorinstanz
vorgehend LG Hof, 6. September 2022, Az: 24 T 99/22, Beschluss
vorgehend LG Hof, 7. September 2022, Az: 24 T 99/22, Beschluss
vorgehend AG Hof, 7. Juni 2022, Az: 25 XIV 79/22 (B), Beschluss
Tenor
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1. Der Beschluss des Amtsgerichts Hof vom 7. Juni 2022 - 25 XIV 79/22 (B) - und der Beschluss des Landgerichts Hof vom 6. September 2022 - 24 T 99/22 - verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 104 Absatz 4 in Verbindung mit Artikel 19 Absatz 4 Grundgesetz, soweit der Antrag des Beschwerdeführers auf Feststellung eines Verstoßes gegen Artikel 104 Absatz 4 Grundgesetz abgelehnt beziehungsweise die Beschwerde gegen diese Ablehnung zurückgewiesen wird.
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2. Der Beschluss des Amtsgerichts Hof vom 7. Juni 2022 - 25 XIV 79/22 (B) - und der Beschluss des Landgerichts Hof vom 6. September 2022 - 24 T 99/22 - werden insoweit aufgehoben. Die Sache wird im Umfang der Aufhebung an das Amtsgericht Hof zur erneuten Entscheidung zurückverwiesen.
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3. Der Freistaat Bayern hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen für das Verfassungsbeschwerdeverfahren zu erstatten.
Gründe
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Der Beschwerdeführer rügt mit seiner Verfassungsbeschwerde eine Verletzung der Benachrichtigungspflicht gemäß Art. 104 Abs. 4 GG.
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I.
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1. Der afghanische Beschwerdeführer wurde bei seiner Einreise in die Bundesrepublik Deutschland festgenommen. Das Amtsgericht Hof ordnete nach persönlicher Anhörung des anwaltlich nicht vertretenen Beschwerdeführers Überstellungshaft an. Im Anhörungsvermerk heißt es: "Von meiner Verhaftung sollen verständigt werden: A. S. (Frankfurt). Die Sach- und Rechtslage hinsichtlich der Adresse von A. S. wurde erörtert."
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2. Der mit der Sache befasste Richter verfügte am Tag der Anhörung unter anderem: "Vertrauensperson des Betroffenen gem. Protokoll informieren." Eine Ausführung dieses Verfügungsteils ist nicht dokumentiert. Eine Justizsekretärin setzte den Verfügungsteil "Vertrauensperson des Betroffenen gem. Protokoll informieren." handschriftlich in Klammern. Weder A. S. noch ein Angehöriger oder eine sonstige Vertrauensperson wurde benachrichtigt.
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3. Der Beschwerdeführer beantragte beim Amtsgericht Hof, den Beschluss über die Anordnung der Überstellungshaft aufzuheben und festzustellen, dass gegen Art. 104 Abs. 4 GG verstoßen worden sei.
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4. Nachdem das Amtsgericht Hof seinen Haftbeschluss aufgehoben hatte, wurde der Beschwerdeführer aus der Haft entlassen.
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5. Im Feststellungsverfahren gab der im Haftanordnungsverfahren zuständig gewesene Richter eine dienstliche Stellungnahme dahin ab, dass er an die Art. 104 Abs. 4 GG betreffenden Erörterungen keine Erinnerung mehr habe. Er könne nur vermuten, dass dem Beschwerdeführer mitgeteilt worden sei, dass das Gericht - wie üblich - Ermittlungen zu der Vertrauensperson mittels Einwohnermeldeamtsanfrage tätigen werde. Im Anschluss an die Anhörung habe er die Verständigung verfügt. Die Verfügung sei nicht durch ihn eingeklammert worden.
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Die mit dem Feststellungsverfahren befasste Richterin des Amtsgerichts Hof verfügte eine Einwohnermeldeamtsanfrage zu "A. S. (Frankfurt) - weitere Personalien nicht bekannt." Die Geschäftsstelle holte eine Auskunft aus dem Bayerischen Behördeninformationssystem ein, welche vier Treffer für Personen mit dem Namen A. S. ergab, wovon eine Person in Frankfurt am Main gemeldet war und wie der Beschwerdeführer die afghanische Staatsbürgerschaft besaß.
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6. Mit Beschluss vom 7. Juni 2022 lehnte das Amtsgericht Hof den Antrag des Beschwerdeführers auf Feststellung, dass gegen Art. 104 Abs. 4 GG verstoßen worden sei, ab (Ziffer 2 des Tenors). Insoweit führte das Amtsgericht aus, der Beschwerdeführer habe lediglich den Vor- und den Nachnamen sowie den Wohnort (Frankfurt) seiner Vertrauensperson benannt, jedoch keine weiterführenden Kontakt- beziehungsweise Personendaten, insbesondere keine Adresse und kein Geburtsdatum. Weiterhin sei unklar, ob Herr S. in Frankfurt am Main oder in Frankfurt an der Oder wohne. Unter diesen Umständen sei die für eine Benachrichtigung zwingend erforderliche eindeutige Identifizierung - auch mittels Einwohnermeldeamtsabfrage - nicht gewährleistet gewesen, sodass eine Benachrichtigung seitens des Gerichts unmöglich gewesen wäre. Dem Gericht habe insoweit keine Nachforschungspflicht oblegen.
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7. Der Beschwerdeführer legte Beschwerde gegen diesen Beschluss ein, welche das Landgericht Hof mit Beschluss vom 6. September 2022 zurückwies. In Bezug auf die Rüge der Verletzung des Art. 104 Abs. 4 GG führte das Landgericht aus, ein Verstoß gegen Art. 104 Abs. 4 GG liege eindeutig nicht vor. Das Amtsgericht Hof habe den Beschwerdeführer ausweislich des Anhörungsvermerks ausdrücklich gefragt, wer von der Inhaftierung verständigt werden solle, woraufhin der Beschwerdeführer den Namen einer Person mitgeteilt habe. Im Anschluss habe das Amtsgericht die Sach- und Rechtslage hinsichtlich der Adresse dieser Person erörtert. Auch habe das Amtsgericht die Benachrichtigung per Verfügung angeordnet. Die tatsächliche Verständigung der Vertrauensperson sei in der Folge lediglich daran gescheitert, dass die von dem Beschwerdeführer benannte Person beziehungsweise deren Adresse nicht habe ermittelt werden können, weil sie von dem Beschwerdeführer nicht hinreichend bezeichnet worden sei.
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II.
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Der Beschwerdeführer wendet sich mit seiner Verfassungsbeschwerde bei sachgerechter Auslegung gegen Ziffer 2 des Tenors des Beschlusses des Amtsgerichts vom 7. Juni 2022, mit der das Amtsgericht seinen Antrag auf Feststellung eines Verstoßes gegen Art. 104 Abs. 4 GG abgelehnt hat, sowie gegen den Beschluss des Landgerichts vom 6. September 2022, soweit das Landgericht die Beschwerde des Beschwerdeführers gegen Ziffer 2 des Tenors des Beschlusses des Amtsgerichts vom 7. Juni 2022 zurückgewiesen hat.
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Das Amtsgericht habe keinen Angehörigen und keine Vertrauensperson benachrichtigt, obwohl der Beschwerdeführer eine solche Benachrichtigung gewünscht habe. Das Amtsgericht habe bezüglich der Anschrift der von ihm benannten Vertrauensperson nähere Ermittlungen anstellen und die zur Sach- und Rechtslage geführten Gespräche dokumentieren müssen.
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III.
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Das Bayerische Staatsministerium der Justiz und die Bundespolizeidirektion München hatten Gelegenheit zur Stellungnahme. Die Akten des Ausgangsverfahrens nebst den Verwaltungsvorgängen haben dem Bundesverfassungsgericht vorgelegen.
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IV.
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Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an (§ 93b Satz 1 BVerfGG) und gibt ihr statt. Die Voraussetzungen des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG liegen vor. Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist nach § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG zur Durchsetzung des Grundrechts des Beschwerdeführers aus Art. 104 Abs. 4 in Verbindung mit Art. 19 Abs. 4 GG angezeigt.
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1. Der Beschluss des Amtsgerichts Hof vom 7. Juni 2022 verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 104 Abs. 4 in Verbindung mit Art. 19 Abs. 4 GG, soweit der Antrag des Beschwerdeführers auf Feststellung eines Verstoßes gegen Art. 104 Abs. 4 GG abgelehnt wird.
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a) Art. 104 Abs. 4 GG, wonach von jeder richterlichen Entscheidung über die Anordnung oder Fortdauer einer Freiheitsentziehung unverzüglich ein Angehöriger des Festgehaltenen oder eine Person seines Vertrauens zu benachrichtigen ist, ist nicht nur eine objektive Verfassungsnorm, die dem Richter eine Verpflichtung auferlegt; sie verleiht dem Festgehaltenen vielmehr zugleich ein subjektives Recht darauf, dass die Vorschrift beachtet wird (vgl. BVerfGE 16, 119 122>; 38, 32 34 f.>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 14. Mai 2020 - 2 BvR 2345/16 -, Rn. 42). Der Zweck des Art. 104 Abs. 4 GG ist es, einer in Haft genommenen Person den Kontakt nach außen zu sichern und damit ein spurloses Verschwinden von Personen zu verhindern (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 14. Mai 2020 - 2 BvR 2345/16 -, Rn. 43; vgl. auch die Parallelbeschlüsse der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 18. Dezember 2023 - 2 BvR 656/20 -, Rn. 11; - 2 BvR 1210/23 -, Rn. 11).
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Die Benachrichtigung nach Art. 104 Abs. 4 GG obliegt dem Richter, der die Haft oder ihre Fortdauer anordnet, und hat von Amts wegen zu geschehen (vgl. BVerfGE 16, 119 123>). Der Richter kann die Benachrichtigung durch eine andere Stelle vornehmen lassen. Er muss aber dafür Sorge tragen, dass die Benachrichtigung unverzüglich erfolgt (vgl. BVerfGE 38, 32 34>).
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b) Gemessen daran verletzt Ziffer 2 des Tenors des Beschlusses des Amtsgerichts Hof vom 7. Juni 2022, mit der das Amtsgericht den Antrag des Beschwerdeführers auf Feststellung eines Verstoßes gegen Art. 104 Abs. 4 GG abgelehnt hat, den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 104 Abs. 4 in Verbindung mit Art. 19 Abs. 4 GG.
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Das Amtsgericht Hof hat die Benachrichtigung einer Vertrauensperson unterlassen, ohne dass sie unmöglich war. Dies belegt die undatierte Meldeauskunft, die sich in den Verfahrensunterlagen befindet. Unter dem Namen und dem Wohnort, den der Beschwerdeführer zu der Person angegeben hat, deren Benachrichtigung er wünschte, ergibt sich ein geeigneter Treffer. Die Einholung dieser Meldeauskunft war für das Amtsgericht auch nicht unzumutbar. Vielmehr ist auf der Grundlage von Namen und Wohnort einer Person zur Ermittlung der erforderlichen Kontaktdaten die Einholung einer Meldeauskunft im regelmäßigen Geschäftsgang möglich, wie es auch der gängigen Praxis entspricht. Dem Amtsgericht Hof oblag daher eine entsprechende Amtsermittlungspflicht. Die von Art. 104 Abs. 4 GG geforderte Benachrichtigung von einer Inhaftierung kann nicht davon abhängen, ob der vom Haftgericht über Art. 104 Abs. 4 GG informierte Festgehaltene ohne weitere Vorbereitung - und gegebenenfalls sogar auswendig - die Anschrift einer von ihm ausdrücklich benannten Vertrauensperson nennen kann.
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Das Amtsgericht Hof ist dieser Pflicht im Haftanordnungsverfahren nicht nachgekommen. Der Haftrichter hat es jedenfalls versäumt, die Ausführung seiner Verfügung durch die Geschäftsstelle sicherzustellen.
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Im nachfolgenden Feststellungsverfahren konnte das Amtsgericht den Verstoß gegen Art. 104 Abs. 4 GG nicht mehr beseitigen (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 12. März 2008 - 2 BvR 2042/05 -, Rn. 15 f.). Die Behauptung des Amtsgerichts im Beschluss vom 7. Juni 2022, das Gericht sei nicht zu Nachforschungen verpflichtet gewesen, war willkürlich, nachdem das Amtsgericht zuvor von Amts wegen ermittelt und eine Meldeauskunft eingeholt hatte, die sich als ergiebig erwiesen hat.
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2. Das Landgericht hat Art. 104 Abs. 4 in Verbindung mit Art. 19 Abs. 4 GG verletzt, soweit es die Beschwerde des Beschwerdeführers gegen Ziffer 2 des Tenors des Beschlusses des Amtsgerichts vom 7. Juni 2022 zurückgewiesen und den Verstoß gegen Art. 104 Abs. 4 GG damit perpetuiert hat.
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V.
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1. Der Beschluss des Amtsgerichts und der Beschluss des Landgerichts sind insoweit aufzuheben, als der Antrag des Beschwerdeführers auf Feststellung eines Verstoßes gegen Art. 104 Abs. 4 GG abgelehnt beziehungsweise die Beschwerde gegen diese Ablehnung zurückgewiesen wird. Die Sache ist insoweit zur erneuten Entscheidung an das Amtsgericht zurückzuverweisen (§ 93c Abs. 2, § 95 Abs. 2 BVerfGG).
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2. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
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Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
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