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BVerfG 30.09.2020 - 1 BvR 495/19
BVerfG 30.09.2020 - 1 BvR 495/19 - Stattgebender Kammerbeschluss: Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter (Art 101 Abs 1 S 2 GG) durch unhaltbare Verbescheidung eines Ablehnungsgesuchs - Gespräche in Sitzungspausen unter Anwesenheit weiterer Personen keine "Beratung" iSd § 193 GVG
Normen
Art 101 Abs 1 S 2 GG, § 93c Abs 1 S 1 BVerfGG, § 193 Abs 1 GVG
Vorinstanz
vorgehend LG Hamburg, 17. Januar 2019, Az: 311 S 25/18, Beschluss
Tenor
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1. Der Beschluss des Landgerichts Hamburg vom 17. Januar 2019 - 311 S 25/18 - verletzt die Beschwerdeführer in ihrem Recht aus Artikel 101 Absatz 1 Satz 2 des Grundgesetzes. Der Beschluss wird aufgehoben und die Sache an das Landgericht Hamburg zurückverwiesen.
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2. Das Land Hamburg hat den Beschwerdeführern ihre notwendigen Auslagen für das Verfassungsbeschwerdeverfahren zu erstatten.
Gründe
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Gegenstand der Verfassungsbeschwerde ist eine Entscheidung über ein Befangenheitsgesuch in einer mietrechtlichen Streitigkeit.
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I.
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Die Beschwerdeführer lehnten im Berufungsverfahren den Vorsitzenden Richter und weitere Mitglieder der Kammer des Landgerichts wegen Befangenheit ab. Dabei beriefen sie sich auf Ablehnungsgründe, die sowohl im Rahmen des Ausgangsverfahrens als auch in einem vorangegangen Verfahren entstanden seien. An beiden Verfahren waren die Beschwerdeführer, ihre Vermieterin sowie der Eigentümer einer weiteren im betroffenen Haus gelegenen Wohnung als Nebenintervenient beteiligt.
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1. Zur Begründung führten die Beschwerdeführer unter anderem aus, dass sich die Mitglieder der Kammer in dem vorangegangenen Verfahren in einer ersten Sitzungsunterbrechung in spottender Art und Weise über den Beruf des Beschwerdeführers zu 1) unterhalten hätten. In einer zweiten Sitzungsunterbrechung hätten die Mitglieder der Kammer mit dem Nebenintervenienten über den Gegenstand des Verfahrens gesprochen und Ratschläge erteilt. Zur Glaubhaftmachung legten sie Niederschriften von Gesprächsaufzeichnungen vor, die sie ohne Zustimmung der übrigen Anwesenden in den zwei Sitzungsunterbrechungen im Gerichtssaal gefertigt hatten. Während beider Sitzungsunterbrechungen seien neben den Mitgliedern der Kammer zwei Schüler oder Studenten anwesend gewesen, in der zweiten Unterbrechung neben weiteren Personen auch der Nebenintervenient.
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Die als befangen ablehnten Richter gaben in ihren dienstlichen Erklärungen an, sich an keine Einzelheiten der mündlichen Verhandlung in dem vorangegangenen Verfahren zu erinnern.
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2. Das Landgericht wies das Befangenheitsgesuch mit angefochtenem Beschluss vom 17. Januar 2019 zurück. Die von den Beschwerdeführern vorgebrachten Befangenheitsgründe, die sich auf die Inhalte einer Beratung und ein nicht öffentlich geführtes Gespräch mit dem Nebenintervenienten bezögen, seien nicht geeignet, Misstrauen gegen die Unparteilichkeit der abgelehnten Richter zu begründen. Ob der Gesprächsinhalt zu einem Befangenheitsgrund führen werde, brauche nicht entschieden zu werden, weil er nicht glaubhaft gemacht sei. Die vorgebrachten Tatsachen seien in unzulässiger Weise durch eine heimliche Tonaufnahme erlangt worden und nach einer im Einzelfall vorzunehmenden Gesamtabwägung nicht verwertbar. Dem Interesse der Beschwerdeführer stehe ein höherwertiges Interesse der Richter, des Nebenintervenienten und vor allem das Interesse des Rechtsstaats an dem Funktionieren der Rechtspflege gegenüber. Insbesondere die Beschädigung, die die Rechtspflege erfahre, wenn heimlich aufgenommene Beratungen und Gespräche im Gerichtssaal verwertet werden dürften, lasse die Interessen der Beschwerdeführer zurückstehen. Das Verwertungsverbot führe zwar dazu, dass der Rechtsstreit von einem Richter entschieden werde, der sich eventuell nicht neutral verhalten habe. Dem stehe aber eine eklatante Verletzung der Funktionsfähigkeit der Rechtspflege gegenüber. Der Beratung komme in der Entscheidungsfindung eine überragende Bedeutung zu, sie unterliege der Geheimhaltungspflicht, solle die Einflussnahme Dritter ausschließen und setze daher grundsätzlich voraus, dass Beratung und Abstimmung in einem nicht öffentlich zugänglichen Raum stattfinden. In der Praxis werde dies vor Ort mangels entsprechender Räumlichkeiten oftmals dadurch erreicht, dass die Anwesenden gebeten werden, den Raum zu verlassen. Dies sei bei einer Verwertbarkeit von Gesprächsaufnahmen mit im Saal gelassenen technischen Geräten nicht mehr möglich.
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II.
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1. Die Beschwerdeführer rügen eine Verletzung ihrer Rechte aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Das Landgericht setze sich in willkürlicher Weise über das Grundrecht auf den unbefangenen, unparteiischen gesetzlichen Richter hinweg. Die Einordnung der aufgenommenen Gespräche als Beratung im Sinne des § 193 Abs. 1 GVG widerspreche höchstrichterlicher Rechtsprechung. Richter, die in Ausübung ihres Dienstes handeln, könnten sich, wenn eine öffentliche Verhandlung im Sitzungssaal betroffen ist, nicht auf ihr allgemeines Persönlichkeitsrecht zurückziehen. Die Rechtsauffassung des Landgerichts biete befangenen Richtern zukünftig die Möglichkeit, sich unter Ausschluss einer Partei mit der Gegenseite im Sitzungssaal abzustimmen, deren Interessen wahrzunehmen, sie unter Verletzung rechtlichen Gehörs anzuhören sowie Hinweise zu geben und sich auf ein Verwertungsverbot zu berufen.
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2. Die Justizbehörde Hamburg und die übrigen Beteiligten des Ausgangsverfahrens hatten Gelegenheit zur Stellungnahme. Hiervon haben die Klägerin des Ausgangsverfahrens und der Nebenintervenient Gebrauch gemacht. Die Kammer hat die Akten des Ausgangsverfahrens beigezogen. Eine Entscheidung über die Berufung ist bislang nicht erfolgt.
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III.
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Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt. Das Bundesverfassungsgericht hat die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits geklärt (vgl. BVerfGE 138, 64 86 ff. Rn. 70 ff.> m.w.N.). Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und offensichtlich begründet (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).
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1. Der angegriffene Beschluss verletzt die Beschwerdeführer in ihrem Recht aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Das grundrechtsgleiche Recht auf den gesetzlichen Richter garantiert, dass Rechtsuchende im Einzelfall vor einem Richter stehen, der unabhängig und unparteilich ist und die Gewähr für Neutralität und Distanz gegenüber den Verfahrensbeteiligten bietet (vgl. BVerfGE 21, 139 146>; 89, 28 36>).
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a) Eine Entziehung des gesetzlichen Richters im Sinne von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG durch die Rechtsprechung, der auch die Handhabung des Ablehnungsrechts im Einzelfall obliegt, kann allerdings nicht in jeder fehlerhaften Rechtsanwendung gesehen werden (vgl. BVerfGE 82, 286 299>; BVerfGK 5, 269 280>; 12, 139 143>). Die Grenzen zum Verfassungsverstoß sind aber jedenfalls dann überschritten, wenn die Auslegung einer Zuständigkeitsnorm oder ihre Handhabung im Einzelfall willkürlich oder offensichtlich unhaltbar sind oder wenn die richterliche Entscheidung Bedeutung und Tragweite der Verfassungsgarantie des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG grundlegend verkennt (vgl. BVerfGE 82, 286 299>; BVerfGK 5, 269 280>; 12, 139 143 f.>).
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b) Nach diesen Grundsätzen verstößt der angefochtene Beschluss gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Das Landgericht hat bei der gebotenen Abwägungsentscheidung über die Verwertbarkeit der Sprachaufzeichnung (vgl. BVerfGE 106, 28 49> m.w.N.) die Bedeutung und Tragweite des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG grundlegend verkannt, indem es in Sitzungsunterbrechungen aufgenommene Gespräche ohne die erforderliche Klärung der tatsächlichen Grundlagen und ohne Auseinandersetzung mit entgegenstehender höchstrichterlicher Rechtsprechung als Beratung im Sinne des § 193 GVG eingeordnet (aa) und auf Grundlage dessen im Rahmen der Abwägung maßgeblich auf die Funktionsfähigkeit der Rechtspflege abgestellt hat (bb).
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aa) Angesichts der möglichen Anwesenheit von "Schülern oder Studenten" während der ersten Sitzungsunterbrechung und weiterer Personen während der zweiten Unterbrechung ist die Annahme des Landgerichts, dass in den Sitzungspausen aufgenommene Gespräche eine Beratung im Sinne des § 193 Abs. 1 GVG darstellten, offensichtlich unhaltbar.
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Eindeutig keine Beratung im Sinne des § 193 Abs. 1 GVG sind Gespräche der Kammer mit einer Partei. Das Landgericht setzt sich zudem in tatsächlicher Hinsicht schon nicht mit der Frage auseinander, ob Schüler oder Studenten der Rechtswissenschaften in der ersten Sitzungsunterbrechung anwesend waren. Die Teilnahme von Schülern an einer Beratung ist jedoch von vorneherein ausgeschlossen (vgl. OLG Koblenz, Beschluss vom 4. November 2004 - 1 Ss 297/04 -). Das gleiche gilt für Studierende der Rechtswissenschaften, denn sie sind nach Rechtsprechung und überwiegender Ansicht in der Literatur keine "bei demselben Gericht zu ihrer juristischen Ausbildung beschäftigte Personen" im Sinne des § 193 Abs. 1 GVG, denen die Anwesenheit bei der Beratung gestattet ist, auch nicht während des nach § 5a Abs. 3 Satz 2 DRiG zu absolvierenden Gerichtspraktikums (vgl. BGH, Urteil vom 30. März 1995 - 4 StR 33/95 -, Rn. 4 ff.; Lückemann, in: Zöller, ZPO, 33. Aufl. 2020, § 193 GVG Rn. 4; Wickern, in: Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Aufl. 2010, § 193 GVG Rn. 14; Zimmermann, in: Münchener Kommentar zur ZPO, 5. Aufl. 2017, § 193 GVG Rn. 4 m.w.N.; a.A. HambOVG, Beschluss vom 6. April 1998 - Bf III 33/97 -; Wolff-Dellen, in: Breitkreuz/Fichte, SGG, 2. Aufl. 2014, § 61 Rn. 65). Das Gericht lässt weder erkennen, dass es insoweit von der höchstrichterlichen Rechtsprechung und überwiegenden Meinung in der Literatur abweichen will (vgl. dazu BVerfGE 71, 122 135 f.>; 81, 97 106>), noch begründet es, warum Gespräche unter ungeklärt gebliebener Beteiligung von Schülern oder Studenten gleichwohl als Beratung im Sinne des § 193 GVG eingeordnet werden können.
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bb) Das Landgericht durfte daher bei der vorzunehmenden Abwägung eine Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit der Rechtspflege nicht einstellen, denn diese war erkennbar nur mit dem heimlichen Abhören einer Beratung begründet. Auch die vom Landgericht vorgenommenen Zweckmäßigkeitserwägungen, dass Zwischenberatungen in der Praxis oftmals im Sitzungssaal stattfinden müssen, können das Abwägungsergebnis nicht tragen. Bei einer heimlichen Aufnahme von Beratungen unter Verstoß gegen § 193 Abs. 1 GVG unterliegt die Abwägung anderen, hier nicht einschlägigen, Maßstäben. Denn in diesem Fall streiten nicht nur das allgemeine Persönlichkeitsrecht, sondern auch Art. 97 GG und Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG gegen eine Verwertung, weil § 193 GVG der Sicherung des gesetzlichen Richters (vgl. Diemer, in: Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung, 8. Aufl. 2019, § 193 GVG Rn. 1) und dessen Unabhängigkeit dient (vgl. BGH, Urteil vom 30. März 1995 - 4 StR 33/95 -, Rn. 8; vgl. auch Staats, in: Deutsches Richtergesetz, 2012, § 43 Rn. 2). Dass die Rechtspflege auch durch heimliche Aufnahmen in Sitzungspausen, in denen gerade keine Beratung stattfindet, vergleichbar beeinträchtigt werden kann, ist weder der Beschlussbegründung zu entnehmen noch liegt dies auf der Hand.
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c) Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Landgericht ohne Berücksichtigung der durch die heimliche Aufnahme einer Beratung beeinträchtigten Funktionsfähigkeit der Rechtspflege zu einem anderen Abwägungsergebnis und letztlich auch zu einem anderen Ergebnis in der Sache gekommen wäre. Eine Abwägung nur zwischen dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht der anwesenden Parteien, deren Anwälten, der anwesenden Schüler oder Studenten sowie der Mitglieder der Kammer einerseits und des für die Verwertung der Aufnahme sprechenden verfassungsrechtlich geschützten Interesses der Beschwerdeführer in der Form des Rechts auf den gesetzlichen Richter andererseits kann dem angefochtenen Beschluss nicht entnommen werden. Zwar geht das Gericht davon aus, dass das allgemeine Persönlichkeitsrecht der Richter und des Nebenintervenienten höher zu bewerten sei als das Interesse des Beschwerdeführers an der Aufnahme. Das Ergebnis seiner Abwägung stützt es aber - wenn nicht gar maßgeblich - auf die durch die heimliche Aufnahme gerade einer Beratung verletzte Funktionsfähigkeit der Rechtspflege, die so hier nicht vorliegt.
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2. Die angegriffene Entscheidung ist gemäß § 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 BVerfGG aufzuheben und zur erneuten Entscheidung an das Landgericht zurückzuverweisen. Der Antrag der Beschwerdeführer auf Zurückverweisung an ein anderes Landgericht ist abzulehnen. Nach § 95 Abs. 2 BVerfGG kommt eine Zurückverweisung an ein anderes zuständiges Gericht nur in Betracht, wenn dies zur Wahrung der materiellen Einzelfallgerechtigkeit erforderlich ist, um sachfremden Einflüssen auf das Verfahren vorzubeugen (vgl. BVerfGE 20, 336 344>; 107, 104 133>). Die von den Beschwerdeführern genannten Gründe bieten für eine solche Annahme keinen genügenden Anlass.
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Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
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Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
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