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EuGH 12.09.2017 - C-648/15
EuGH 12.09.2017 - C-648/15 - URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer) - 12. September 2017 ( *1) - „Art. 273 AEUV – Streitigkeit zwischen Mitgliedstaaten, die aufgrund eines Schiedsvertrags beim Gerichtshof anhängig gemacht wird – Steuerrecht – Bilaterales Doppelbesteuerungsabkommen – Besteuerung von Zinserträgen aus Genussscheinen – Begriff ‚Forderungen mit Gewinnbeteiligung‘“
Leitsatz
In der Rechtssache C-648/15
betreffend eine Klage nach Art. 273 AEUV, eingereicht am 3. Dezember 2015,
Republik Österreich, vertreten durch C. Pesendorfer, F. Koppensteiner und H. Jirousek als Bevollmächtigte,
Klägerin,
gegen
Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch T. Henze und J. Möller als Bevollmächtigte,
Beklagte,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten A. Tizzano, der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidenten T. von Danwitz und J. L. da Cruz Vilaça, der Richter J. Malenovský, E. Levits, J.-C. Bonichot (Berichterstatter) und A. Arabadjiev, der Richterin C. Toader, der Richter C. G. Fernlund, C. Vajda, S. Rodin und F. Biltgen sowie der Richterin K. Jürimäe,
Generalanwalt: P. Mengozzi,
Kanzler: K. Malacek, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 6. Dezember 2016,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 27. April 2017
folgendes
Entscheidungsgründe
Urteil
Mit ihrer Klage ersucht die Republik Österreich den Gerichtshof um Entscheidung der Streitigkeit zwischen ihr und der Bundesrepublik Deutschland über die Auslegung von Art. 11. Abs. 2 des Abkommens zwischen der Republik Österreich und der Bundesrepublik Deutschland zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen vom 24. August 2000 (BGBl. III 182/2002, im Folgenden: österreichisch-deutsches Abkommen) hinsichtlich der Besteuerung von Zinserträgen aus Genussscheinen, die von einer in der Bundesrepublik Deutschland ansässigen Bank ausgegeben wurden und von einer in Österreich ansässigen Bank gehalten werden.
Rechtlicher Rahmen
Wiener Übereinkommen
Art. 31 Abs. 1 des Wiener Übereinkommens vom 23. Mai 1969 über das Recht der Verträge (United Nations Treaty Series, Bd. 1155, S. 331, im Folgenden: Wiener Übereinkommen) lautet:
„Ein Vertrag ist nach Treu und Glauben in Übereinstimmung mit der gewöhnlichen, seinen Bestimmungen in ihrem Zusammenhang zukommenden Bedeutung und im Lichte seines Zieles und Zweckes auszulegen.“
Österreichisch-deutsches Abkommen
Art. 3 Abs. 2 des österreichisch-deutschen Abkommens bestimmt:
„Bei der Anwendung des [deutsch-österreichischen] Abkommens durch einen Vertragsstaat hat, wenn der Zusammenhang nichts anderes erfordert, jeder im Abkommen nicht definierte Ausdruck die Bedeutung, die ihm im Anwendungszeitraum nach dem Recht dieses Staates über die Steuern zukommt, für die das Abkommen gilt, wobei die Bedeutung nach dem in diesem Staat anzuwendenden Steuerrecht den Vorrang vor einer Bedeutung hat, die der Ausdruck nach anderem Recht dieses Staates hat.“
Nach Art. 11 Abs. 1 des österreichisch-deutschen Abkommens werden Einkünfte in Form von Zinsen in dem Staat besteuert, in dem der Nutzungsberechtigte ansässig ist. Eine andere Behandlung ist in Art. 10 dieses Abkommens für Einkünfte aus Dividenden vorgesehen. Diese werden grundsätzlich in dem Staat besteuert, aus dem sie stammen.
Art. 11 Abs. 2 des österreichisch-deutschen Abkommens lautet:
„Einkünfte aus Rechten oder Forderungen mit Gewinnbeteiligung einschließlich der Einkünfte eines stillen Gesellschafters aus seiner Beteiligung als stiller Gesellschafter oder aus partiarischen Darlehen und Gewinnobligationen dürfen jedoch auch in dem Vertragsstaat, aus dem sie stammen, nach dem Recht dieses Staates besteuert werden.“
Zur Vermeidung der Doppelbesteuerung solcher Einkünfte haben die beiden Vertragsstaaten die sogenannte „Anrechnungsmethode“ gewählt, die in Art. 23 des österreichisch-deutschen Abkommens definiert ist. Danach hat der Staat, in dem der Nutzungsberechtigte der Zinsen ansässig ist, die im Quellenstaat bereits erhobene Steuer auf die Steuer anzurechnen, die dort auf die Einkünfte des Nutzungsberechtigten zu erheben ist.
Nach Art. 25 Abs. 1 des österreichisch-deutschen Abkommens können Personen, die der Auffassung sind, von einer Besteuerung betroffen zu sein, die diesem Abkommen nicht entspricht, ein Verständigungsverfahren zwischen den zuständigen Behörden der Vertragsstaaten initiieren.
Art. 25 Abs. 5 des Abkommens bestimmt:
„Können Schwierigkeiten oder Zweifel, die bei der Auslegung oder Anwendung dieses Abkommens entstehen, von den zuständigen Behörden nicht im Verständigungsverfahren nach den vorstehenden Absätzen dieses Artikels innerhalb einer Frist von 3 Jahren ab der Verfahrenseinleitung beseitigt werden, sind auf Antrag der Person im Sinne des Absatzes 1 die Staaten verpflichtet, den Fall im Rahmen eines Schiedsverfahrens entsprechend Artikel [273 AEUV] vor dem Gerichtshof der Europäischen [Union] anhängig zu machen.“
Nach Art. 30 des österreichisch-deutschen Abkommens ist das dem Abkommen beiliegende Protokoll Bestandteil des Abkommens.
In Nr. 16 dieses Protokolls heißt es, dass den Bestimmungen des österreichisch-deutschen Abkommens, die nach den entsprechenden Bestimmungen des von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) erarbeiteten Musterabkommens zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen abgefasst sind, allgemein dieselbe Bedeutung zukommt, die im Kommentar zu den Artikeln dieses Musterabkommens dargelegt wird. Weiter heißt es in Nr. 16 des Protokolls, dass der Kommentar eine Hilfe zur Auslegung des österreichisch-deutschen Abkommens im Sinne des Wiener Übereinkommens darstellt.
Vorgeschichte der Streitigkeit
Zwischen 1996 und 1998 erwarb die Bank Austria AG, eine Gesellschaft mit Sitz in der Republik Österreich, die dort unbeschränkt steuerpflichtig ist, Genussscheine von der Westdeutschen Landesbank Girozentrale Düsseldorf und Münster, nunmehr Landesbank NRW, die ihren Sitz in der Bundesrepublik Deutschland hat.
Nach dem Vorbringen der Republik Österreich, das von der Bundesrepublik Deutschland nicht bestritten wird, lassen sich die Ausgabebedingungen für die Genussscheine wie folgt zusammenfassen:
Es besteht Anspruch auf eine jährliche Ausschüttung nach einem festen Prozentsatz des Nennwerts.
Sofern durch die jährliche Ausschüttung ein Bilanzverlust entsteht, verringert sich der Ausschüttungsbetrag entsprechend.
Die Genussscheine gewähren jedoch während ihrer Laufzeit ein Nachzahlungsrecht in späteren Jahren, soweit durch diese Nachholung der Ausschüttung kein Bilanzverlust entsteht.
Die Ausschüttungs- und Nachzahlungsansprüche haben Vorrang vor der Dotierung von Rücklagen sowie der Ausschüttung an die Gewährträger.
Die Rückzahlung des zur Verfügung gestellten Genussscheinkapitals erfolgt zum Nennwert.
Wird jedoch ein Bilanzverlust ausgewiesen, vermindert sich der Rückzahlungsanspruch entsprechend. Auch hier erfolgt die Wiederauffüllung der Rückzahlungsansprüche auf den Nennwert während der Laufzeit des Genussscheins in späteren Jahren, sofern dadurch kein Bilanzverlust entsteht.
Es besteht keine Beteiligung am Liquidationserlös des Emittenten.
Für den Emittenten besteht ein Kündigungsrecht, wenn die steuerliche Abzugsfähigkeit aus den Genussscheinen wegfällt.
Zwar ist unstreitig, dass es sich bei den Einkünften aus den Genussscheinen um Zinsen im Sinne von Art. 11 des österreichisch-deutschen Abkommens und nicht um Dividenden im Sinne von Art. 10 dieses Abkommens handelt, doch besteht zwischen der Republik Österreich und der Bundesrepublik Deutschland Uneinigkeit darüber, ob diese Zinsen unter Art. 11 Abs. 1 oder unter Art. 11 Abs. 2 des Abkommens fallen. Insbesondere ist die Republik Österreich der Ansicht, dass die Genussscheine nicht zu einer Gewinnbeteiligung im Sinne von Art. 11 Abs. 2 des Abkommens berechtigten, während die Bundesrepublik Deutschland gegenteiliger Auffassung ist.
Aufgrund dieser unterschiedlichen rechtlichen Einordnung der an Bank Austria gezahlten Zinsen beanspruchten beide Staaten das ausschließliche Recht zur Besteuerung dieser Zinsen, was für Bank Austria in den Steuerjahren 2003 bis 2009 zu einer Doppelbesteuerung führte.
Bank Austria stellte bei den österreichischen Behörden gemäß Art. 25 Abs. 1 des österreichisch-deutschen Abkommens einen Antrag auf Einleitung eines Verständigungsverfahrens. Das Verfahren wurde von der Republik Österreich eingeleitet, Ende 2011 jedoch für gescheitert erklärt.
Daraufhin ersuchte Bank Austria die Republik Österreich gemäß Art. 25 Abs. 5 des österreichisch-deutschen Abkommens, die Streitigkeit vor dem Gerichtshof anhängig zu machen.
Anträge der Parteien
Die Republik Österreich beantragt,
zu entscheiden, dass die klagsgegenständlichen Genussscheine nicht als Forderungen mit Gewinnbeteiligung im Sinne von Art. 11 Abs. 2 des österreichisch-deutschen Abkommens zu qualifizieren sind und dass daher der Republik Österreich als dem Ansässigkeitsstaat des Nutzungsberechtigten das ausschließliche Besteuerungsrecht an den Genussscheinerträgen zukommt;
zu entscheiden, dass die Bundesrepublik Deutschland die Besteuerung dieser Erträge somit zu unterlassen und die darauf bereits einbehaltene Steuer rückzuerstatten hat;
der Bundesrepublik Deutschland die Kosten aufzuerlegen.
Die Bundesrepublik Deutschland beantragt,
zu entscheiden, dass die klagegegenständlichen Genussscheinerträge als Forderungen mit Gewinnbeteiligung im Sinne von Art. 11 Abs. 2 des österreichisch-deutschen Abkommens zu qualifizieren sind und dass daher der Bundesrepublik Deutschland als dem Quellenstaat das Besteuerungsrecht an den Genussscheinerträgen zukommt;
zu entscheiden, dass die Republik Österreich die Doppelbesteuerung dieser Erträge somit zu beseitigen und die bereits entrichtete Steuer zurückzuerstatten hat;
der Republik Österreich die Kosten aufzuerlegen.
Zum Antrag auf Beilegung der Streitigkeit
Zur Zuständigkeit des Gerichtshofs
Der Gerichtshof wurde gemäß Art. 273 AEUV angerufen, wonach er „für jede mit dem Gegenstand der Verträge im Zusammenhang stehende Streitigkeit zwischen Mitgliedstaaten zuständig [ist], wenn diese bei ihm aufgrund eines Schiedsvertrags anhängig gemacht wird“.
Danach setzt die Zuständigkeit des Gerichtshofs zum einen voraus, dass eine Streitigkeit zwischen Mitgliedstaaten vorliegt. Daran besteht im vorliegenden Fall kein Zweifel.
Die Republik Österreich und die Bundesrepublik Deutschland beanspruchen nämlich beide das ausschließliche Recht zur Besteuerung von Einkünften aus Steuerjahren, in denen sie zur Europäischen Union gehörten. Dies hat beim Steuerpflichtigen zu einer Doppelbesteuerung geführt, die gegen die Ziele des österreichisch-deutschen Abkommens verstößt, mit dem die Vertragsstaaten eine Doppelbesteuerung gerade vermeiden wollten. Da das in diesem Abkommen vorgesehene Verständigungsverfahren nicht zum Erfolg geführt hat, kann eine Streitigkeit zwischen Mitgliedstaaten im Sinne von Art. 273 AEUV nur bejaht werden.
Die Zuständigkeit des Gerichtshofs setzt zum anderen voraus, dass die bei ihm anhängig gemachte Streitigkeit mit dem Gegenstand der Verträge im Zusammenhang steht.
Wie der Generalanwalt in Nr. 43 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, ergibt ein Vergleich der verschiedenen Sprachfassungen von Art. 273 AEUV, dass der Begriff „Zusammenhang“ als ein Bezug und nicht als ein Verhältnis völliger Übereinstimmung zu verstehen ist.
Diese Auslegung wird durch einen Vergleich mit der in Art. 259 AEUV vorgesehenen Möglichkeit für einen Mitgliedstaat bestätigt, eine Vertragsverletzungsklage gegen einen anderen Mitgliedstaat zu erheben, wenn er der Auffassung ist, dass dieser gegen eine seiner Verpflichtungen aus den Verträgen selbst verstoßen hat.
Die in Art. 273 AEUV aufgestellte Voraussetzung des Zusammenhangs ist somit erfüllt, wenn erwiesen ist, dass die beim Gerichtshof anhängig gemachte Streitigkeit einen objektiv feststellbaren Bezug zum Gegenstand der Verträge aufweist.
Dies ist in Anbetracht der positiven Wirkung, die eine Abmilderung der Doppelbesteuerung auf das Funktionieren des Binnenmarkts hat, dessen Verwirklichung die Union gemäß Art. 3 Abs. 3 EUV und Art. 26 AEUV zum Ziel hat, hier offenkundig der Fall. Wie die Europäische Kommission in ihrer Mitteilung an das Europäische Parlament, den Rat und den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss „Doppelbesteuerung im Binnenmarkt“ vom 11. November 2011 (KOM[2011] 712 endgültig) im Wesentlichen ausgeführt hat, bezweckt und bewirkt der Abschluss eines Doppelbesteuerungsabkommens zwischen zwei Mitgliedstaaten, einige Folgen der nicht abgestimmten Ausübung ihrer Besteuerungsbefugnis zu beseitigen oder abzumildern, die naturgemäß die Inanspruchnahme der im AEU-Vertrag vorgesehenen Verkehrsfreiheiten einschränken, von ihr abschrecken oder sie weniger attraktiv machen kann.
Schließlich ist der Gerichtshof nur dann für die Entscheidung über eine Klage nach Art. 273 AEUV zuständig, wenn sie bei ihm aufgrund eines Schiedsvertrags anhängig gemacht wird.
Das vorliegende Ersuchen ist zwar nicht auf der Grundlage einer speziell für die Beilegung der vorliegenden Streitigkeit vereinbarten Schiedsklausel gestellt worden, sondern in Anwendung einer allgemeinen Bestimmung des österreichisch-deutschen Abkommens, nämlich Art. 25 Abs. 5, der bereits vor Entstehung dieser Streitigkeit bestand und durch den sich die Vertragsstaaten dazu verpflichtet haben, alle Schwierigkeiten, die bei der Auslegung oder Anwendung dieses Abkommens entstehen und nicht gütlich beigelegt werden können, vor den Gerichtshof zu bringen.
Angesichts des mit Art. 273 AEUV verfolgten Ziels, den Mitgliedstaaten ein Mittel für die Beilegung ihrer Streitigkeiten im Zusammenhang mit dem Gegenstand der Verträge innerhalb des Gerichtssystems der Union zur Verfügung zu stellen, spricht jedoch nichts dagegen, dass die Parteien schon vor Entstehung einer etwaigen Streitigkeit eine Vereinbarung darüber treffen, dass Fälle, die in einer Bestimmung wie Art. 25 Abs. 5 des österreichisch-deutschen Abkommens festgelegt werden, vor den Gerichtshof gebracht werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. November 2012, Pringle, C-370/12, EU:C:2012:756, Rn. 172).
Der Gerichtshof ist daher zur Entscheidung über die vorliegende Streitigkeit befugt.
Zur Sache
Die Streitigkeit betrifft die Frage, ob der in Art. 11 Abs. 2 des österreichisch-deutschen Abkommens verwendete Begriff „Forderungen mit Gewinnbeteiligung“ dahin auszulegen ist, dass er Wertpapiere wie die im vorliegenden Fall in Rede stehenden umfasst.
Die fraglichen Genussscheine sind als Obligationen eigener Art anzusehen. Aus ihren Ausgabebedingungen ergibt sich nämlich, dass sie durch Zinsen in Höhe eines festen Prozentsatzes ihres Nennwerts vergütet werden. Ihre Besonderheit ergibt sich jedoch im Wesentlichen daraus, dass die Ausschüttung der Zinsen vermindert oder ausgesetzt wird, wenn der Emittent dadurch einen Bilanzverlust erleidet, sie aber später nachgeholt wird, wenn der Emittent wieder Gewinne ausweist und durch die Nachholung kein Verlust entsteht.
Für die Beilegung der Streitigkeit ist daher zu klären, ob die Art der Vergütung der Genussscheine als eine „Gewinnbeteiligung“ im Sinne von Art. 11 Abs. 2 des österreichisch-deutschen Abkommens anzusehen ist. Der Begriff wird im Abkommen nicht definiert.
Die Bundesrepublik Deutschland stützt sich insoweit auf die in ihrem nationalen Recht, insbesondere in einem Urteil des Bundesfinanzhofs (Deutschland) vom 26. August 2010, vertretene Auslegung, nach der die Vergütung der Genussscheine eine Gewinnbeteiligung darstellt.
Art. 3 Abs. 2 des österreichisch-deutschen Abkommens enthält zwar eine Auslegungsregel, wonach ein im Abkommen nicht definierter Ausdruck die Bedeutung erhalten muss, die ihm das Steuerrecht des Staates beilegt, der das Abkommen anwendet.
Diese Regel für die von einem einzelnen Staat zu einem bestimmten Zeitpunkt vorgenommene Auslegung kann jedoch nicht als eine Regel betrachtet werden, die der Beilegung der zwischen den beiden Vertragsstaaten bestehenden Meinungsverschiedenheiten über die Auslegung dient.
Die gegenteilige Auffassung nähme im Übrigen den Bestimmungen in Art. 25 Abs. 5 des österreichisch-deutschen Abkommens die praktische Wirksamkeit. Das darin geregelte Verständigungsverfahren und die dortige Klausel über die Zuweisung der Zuständigkeit an den Gerichtshof ergäben keinen Sinn, wenn die Vertragsstaaten gewollt hätten, dass dieses Abkommen selbst dann nur anhand der nationalen Rechtsordnungen ausgelegt wird, wenn diese – wie im vorliegenden Fall – zu völlig entgegengesetzten Ergebnissen führen.
Daher ist der Begriff „Forderungen mit Gewinnbeteiligung“ im Sinne des österreichisch-deutschen Abkommens nach völkerrechtlichen Methoden auszulegen.
Aus den Bestimmungen des Wiener Übereinkommens, zu dessen Vertragsparteien sowohl die Republik Österreich als auch die Bundesrepublik Deutschland gehören, ergibt sich insoweit, dass ein Vertrag nach Treu und Glauben in Übereinstimmung mit der gewöhnlichen, seinen Bestimmungen in ihrem Zusammenhang zukommenden Bedeutung und im Licht seines Ziels und Zwecks sowie unter Berücksichtigung jedes in den Beziehungen zwischen den Vertragsparteien anwendbaren einschlägigen Völkerrechtssatzes auszulegen ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. Februar 2010, Brita, C-386/08, EU:C:2010:91, Rn. 43).
Zunächst ist zur gewöhnlichen Bedeutung des Begriffs „Gewinnbeteiligung“ festzustellen, dass sowohl der allgemeine Sprachgebrauch als auch die allgemein anerkannten Rechnungslegungsstandards auf eine Bedeutung hinweisen, zu der grundsätzlich die Möglichkeit gehört, an den positiven Jahresergebnissen eines Unternehmens beteiligt zu werden. Das ist in der Regel bei einem Anteilseigner der Fall, aber z. B. auch bei einem Arbeitnehmer, dessen Arbeitsvertrag eine Zulage in Form eines Anteils an dem vom Arbeitgeber erzielten Gewinn vorsieht.
Zudem wird der Ausdruck „Gewinnbeteiligung“ gewöhnlich mit der Veränderlichkeit und Unvorhersehbarkeit der Jahresergebnisse jeglicher risikobehafteten Geschäftstätigkeit in Verbindung gebracht. Die Beteiligung am Gewinn eines Geschäftsjahrs bedeutet daher in der Regel einen Anspruch auf Auszahlung eines zu Beginn des Geschäftsjahrs unbekannten Betrags, der sich von einem zum anderen Geschäftsjahr ändern und im Übrigen auch gleich null sein kann.
Die Wendung „Forderungen mit Gewinnbeteiligung“ bezieht sich also auf Finanzprodukte, deren Vergütung sich zumindest teilweise in Abhängigkeit von der Höhe des Jahresgewinns des Schuldners ändert.
Diese Auslegung wird durch eine Prüfung anhand des Zusammenhangs und der Zielsetzung der Bestimmungen gestützt, in denen der den Kern der vorliegenden Streitigkeit bildende Begriff „Forderungen mit Gewinnbeteiligung“ vorkommt.
Sodann ist zum Zusammenhang festzuhalten, dass der Begriff in Art. 11 Abs. 2 des österreichisch-deutschen Abkommens vor einer Aufzählung steht, die seiner Veranschaulichung dient und in der drei Arten von Finanzinstrumenten genannt werden, deren gemeinsames Merkmal, wie der Generalanwalt in den Nrn. 94 bis 97 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, darin liegt, dass sich ihre Vergütung in Abhängigkeit vom Jahresgewinn des Emittenten ändern kann.
Gleiches gilt für „Gewinnobligationen“, die allgemein als Anleihen definiert werden, die neben einer festen Verzinsung einen Anspruch auf Beteiligung am Gewinn des Emittenten gewähren.
Ebenso sind „partiarische Darlehen“ grundsätzlich durch eine feste oder variable Grundverzinsung gekennzeichnet, zu der eine an die Höhe des Gewinns des Schuldners gekoppelte Verzinsung hinzukommt.
Der „stille Gesellschafter“ – gleich in welcher Form – ist definitionsgemäß am Gewinn der Gesellschaft beteiligt, deren Anteile er hält, wie dies im Übrigen die Republik Österreich unwidersprochen vorgetragen hat.
Schließlich ist zur Zielsetzung der Bestimmungen, in denen die Wendung „Forderungen mit Gewinnbeteiligung“ verwendet wird, festzustellen, dass Art. 11 Abs. 2 des österreichisch-deutschen Abkommens eine Ausnahme von dem in Art. 11 Abs. 1 dieses Abkommens aufgestellten Grundsatz der Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen den Vertragsstaaten darstellt, wonach Zinsen grundsätzlich nur in dem Staat besteuert werden, in dem der Nutzungsberechtigte ansässig ist. Diese Ausnahmebestimmung erlaubt die Besteuerung der Zinsen aus einer Forderung mit Gewinnbeteiligung „auch“ in dem Staat, aus dem sie stammen. Es ist daher Sache des Staates, in dem der Nutzungsberechtigte dieser Zinsen ansässig ist, die Doppelbesteuerung zu beseitigen, indem er die bereits einbehaltene Quellensteuer auf die übrigen vom Forderungsinhaber geschuldeten Steuern anrechnet.
In Anbetracht dieser allgemeinen Systematik sowie der Zielsetzung des österreichisch-deutschen Abkommens, die darin besteht, die rechtliche Doppelbesteuerung bei grenzüberschreitenden Sachverhalten zwischen den beiden Vertragsstaaten so weit wie möglich zu verhindern, ist das Kriterium für die Zulässigkeit einer Ausnahme von der vereinbarten Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse, nämlich das Vorliegen einer Gewinnbeteiligung, eng auszulegen, wie dies in den Rn. 40 bis 42 des vorliegenden Urteils geschehen ist.
Eine weite Auslegung des in Art. 11 Abs. 2 dieses Abkommens verwendeten Ausdrucks „Gewinnbeteiligung“ könnte nämlich die Tragweite von Art. 11 Abs. 1 des Abkommens einschränken, der durch eine strikte Aufteilung der Befugnis zur Zinsbesteuerung jede Doppelbesteuerung verhindern soll, während eine Anwendung von Art. 11 Abs. 2 des Abkommens zu einer Doppelbesteuerung führt, deren schädliche Auswirkungen auf das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts nur durch die Anrechnungsregel in Art. 23 Abs. 1 Buchst. b und Abs. 2 Buchst. b des Abkommens abgemildert werden.
Im vorliegenden Fall steht fest, dass die Genussscheine jedes Jahr in Höhe eines festen Prozentsatzes ihres (ebenfalls festen) Nennwerts vergütet werden, wobei beide Werte bei der Zeichnung im Voraus festgelegt werden.
Die Vergütung der Genussscheine weist zwar außerdem die Besonderheit auf, dass sie gemindert oder ausgesetzt wird, wenn das Geschäftsjahr des Emittenten ihretwegen mit einem Verlust endet, sie aber in späteren profitablen Geschäftsjahren nachgeholt wird, sofern durch die Nachzahlung kein Bilanzverlust entsteht. Diese Nachzahlungen treten somit zu den normalen Zinszahlungen in diesen späteren Geschäftsjahren hinzu.
Diese Besonderheit bedeutet jedoch nur, dass die jährliche Zinszahlung von der Erzielung eines hinreichenden Bilanzgewinns im selben Geschäftsjahr abhängig ist, nicht aber, dass die Genussscheine über den Anspruch auf die jährlichen Zinsen hinaus zur Beteiligung an diesem Gewinn berechtigen würden.
Nach alledem ist der in Art. 11 Abs. 2 des österreichisch-deutschen Abkommens verwendete Begriff „Forderungen mit Gewinnbeteiligung“ dahin auszulegen, dass er Wertpapiere wie die im vorliegenden Fall in Rede stehenden nicht umfasst.
Den wechselseitigen Anträgen der Republik Österreich und der Bundesrepublik Deutschland, ihre Besteuerungsbefugnis hinsichtlich der Einkünfte aus den Genussscheinen jeweils nicht weiter auszuüben, ist mit der Antwort des Gerichtshofs auf die Frage nach der Auslegung von Art. 11 Abs. 2 des österreichisch-deutschen Abkommens Genüge getan.
Den wechselseitigen Anträgen der Republik Österreich und der Bundesrepublik Deutschland, die Rückerstattung der zu Unrecht einbehaltenen Steuer anzuordnen, ist jedenfalls nicht stattzugeben.
Der Gerichtshof verfügt nämlich nicht über die für eine entsprechende Stellungnahme erforderlichen Angaben, insbesondere im Hinblick auf mögliche Überschneidungen mit Verfahren, die eventuell bei den Gerichten des einen oder des anderen Staates anhängig sind.
Es ist daher Sache der Republik Österreich und der Bundesrepublik Deutschland, in loyaler Zusammenarbeit die Konsequenzen aus dem vorliegenden Urteil zu ziehen.
Kosten
Nach Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen.
Da die Bundesrepublik Deutschland mit ihrem Vorbringen unterlegen ist, sind ihr gemäß dem Antrag der Republik Österreich die Kosten aufzuerlegen.
Gründe
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:
Der in Art. 11 Abs. 2 des Abkommens zwischen der Republik Österreich und der Bundesrepublik Deutschland zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen vom 24. August 2000 verwendete Begriff „Forderungen mit Gewinnbeteiligung“ ist dahin auszulegen, dass er Wertpapiere wie die im vorliegenden Fall in Rede stehenden nicht umfasst.
Die Bundesrepublik Deutschland trägt die Kosten.
Lenaerts
Tizzano
Silva de Lapuerta
von Danwitz
Da Cruz Vilaça
Malenovský
Levits
Bonichot
Arabadjiev
Toader
Fernlund
Vajda
Rodin
Biltgen
Jürimäe
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 12. September 2017.
Der Kanzler
A. Calot Escobar
Der Präsident
K. Lenaerts
( *1)Verfahrenssprache: Deutsch
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