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EuGH 26.01.2012 - C-218/10
EuGH 26.01.2012 - C-218/10 - URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer) - 26. Januar 2012 ( *1) - „Mehrwertsteuer — Sechste Richtlinie — Art. 9, 17 und 18 — Bestimmung des Ortes der Dienstleistung — Begriff ‚Gestellung von Personal‘ — Selbständige — Notwendigkeit, die gleiche Beurteilung der Dienstleistung beim Erbringer und beim Empfänger zu gewährleisten“
Leitsatz
In der Rechtssache C-218/10
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Finanzgericht Hamburg (Deutschland) mit Entscheidung vom 20. April 2010, beim Gerichtshof eingegangen am 6. Mai 2010, in dem Verfahren
ADV Allround Vermittlungs AG in Liquidation
gegen
Finanzamt Hamburg-Bergedorf
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Tizzano, der Richter A. Borg Barthet, M. Ilešič und J.-J. Kasel (Berichterstatter) sowie der Richterin M. Berger,
Generalanwalt: J. Mazák,
Kanzler: B. Fülöp, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 30. März 2011,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
der ADV Allround Vermittlungs AG in Liquidation, vertreten durch die Rechtsanwälte S. Heinrichshofen und B. Burgmaier,
der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze als Bevollmächtigten,
der Europäischen Kommission, vertreten durch D. Triantafyllou als Bevollmächtigten,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 28. Juni 2011
folgendes
Entscheidungsgründe
Urteil
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 9 Abs. 2 Buchst. e, Art. 17 Abs. 1, 2 Buchst. a und 3 Buchst. a sowie Art. 18 Abs. 1 Buchst. a der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. L 145, S. 1, im Folgenden: Sechste Richtlinie).
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der ADV Allround Vermittlungs AG in Liquidation (im Folgenden: ADV) und dem Finanzamt Hamburg-Bergedorf (im Folgenden: Finanzamt) über die Bestimmung des Ortes der Erbringung von Dienstleistungen für die Zwecke der Mehrwertsteuererhebung.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Der siebte Erwägungsgrund der Sechsten Richtlinie lautet:
„Die Bestimmung des Ortes des steuerbaren Umsatzes hat insbesondere hinsichtlich der Lieferung eines Gegenstandes mit Montage und der Dienstleistung zu Kompetenzkonflikten zwischen den Mitgliedstaaten geführt. Wenn auch als Ort der Dienstleistung grundsätzlich der Ort gelten muss, an dem der Dienstleistende den Sitz seiner beruflichen Tätigkeit hat, so sollte doch insbesondere für bestimmte zwischen Mehrwertsteuerpflichtigen erbrachte Dienstleistungen, deren Kosten in den Preis der Waren eingehen, als Ort der Dienstleistung das Land des Dienstleistungsempfängers gelten.“
Art. 9 Abs. 1 der Sechsten Richtlinie bestimmt:
„Als Ort einer Dienstleistung gilt der Ort, an dem der Dienstleistende den Sitz seiner wirtschaftlichen Tätigkeit oder eine feste Niederlassung hat, von wo aus die Dienstleistung erbracht wird, oder in Ermangelung eines solchen Sitzes oder einer solchen festen Niederlassung sein Wohnort oder sein üblicher Aufenthaltsort.“
In Art. 9 Abs. 2 Buchst. e der Sechsten Richtlinie heißt es:
„Es gilt jedoch
…
als Ort der folgenden Dienstleistungen, die an außerhalb der Gemeinschaft ansässige Empfänger oder an innerhalb der Gemeinschaft, jedoch außerhalb des Landes des Dienstleistenden ansässige Steuerpflichtige erbracht werden, der Ort, an dem der Empfänger den Sitz seiner wirtschaftlichen Tätigkeit oder eine feste Niederlassung hat, für welche die Dienstleistung erbracht worden ist, oder in Ermangelung eines solchen Sitzes oder einer solchen Niederlassung sein Wohnort oder sein üblicher Aufenthaltsort:
…
Gestellung von Personal,
…“
Art. 17 Abs. 1 der Sechsten Richtlinie bestimmt:
„Das Recht auf Vorsteuerabzug entsteht, wenn der Anspruch auf die abziehbare Steuer entsteht.“
Art. 17 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie sieht vor:
„Soweit die Gegenstände und Dienstleistungen für Zwecke seiner besteuerten Umsätze verwendet werden, ist der Steuerpflichtige befugt, von der von ihm geschuldeten Steuer folgende Beträge abzuziehen:
die im Inland geschuldete oder entrichtete Mehrwertsteuer für Gegenstände und Dienstleistungen, die ihm von einem anderen Steuerpflichtigen geliefert wurden oder geliefert werden bzw. erbracht wurden oder erbracht werden“.
In Art. 17 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie heißt es:
„Die Mitgliedstaaten gewähren jedem Steuerpflichtigen darüber hinaus den Abzug oder die Erstattung der in Absatz 2 genannten Mehrwertsteuer, soweit die Gegenstände und Dienstleistungen verwendet werden für Zwecke:
seiner Umsätze, die sich aus den im Ausland ausgeübten wirtschaftlichen Tätigkeiten im Sinne des Artikels 4 Absatz 2 ergeben, für die das Recht auf Vorsteuerabzug bestünde, wenn diese Umsätze im Inland bewirkt worden wären“.
Art. 18 Abs. 1 Buchst. a der Sechsten Richtlinie sieht vor:
„Um das Recht auf Vorsteuerabzug ausüben zu können, muss der Steuerpflichtige
über die nach Artikel 17 Absatz 2 Buchstabe a abziehbare Steuer eine nach Artikel 22 Absatz 3 ausgestellte Rechnung besitzen“.
Nationales Recht
§ 3a Abs. 1 Satz 1 des Umsatzsteuergesetzes von 1999 (BGBl. 1999 I S. 1270) in der Fassung der Bekanntmachung vom 21. Februar 2005 (im Folgenden: UStG) bestimmt:
„Eine sonstige Leistung wird vorbehaltlich der §§ 3b und 3f an dem Ort ausgeführt, von dem aus der Unternehmer sein Unternehmen betreibt.“
§ 3a Abs. 3 Satz 1 UStG lautet:
„Ist der Empfänger einer der in Absatz 4 bezeichneten sonstigen Leistungen ein Unternehmer, so wird die sonstige Leistung abweichend von Absatz 1 dort ausgeführt, wo der Empfänger sein Unternehmen betreibt.“
§ 3a Abs. 4 UStG sieht vor:
„Sonstige Leistungen im Sinne des Absatzes 3 sind:
…
die Gestellung von Personal …“.
§ 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 UStG bestimmt:
„Der Unternehmer kann die folgenden Vorsteuerbeträge abziehen:
die gesetzlich geschuldete Steuer für Lieferungen und sonstige Leistungen, die von einem anderen Unternehmer für sein Unternehmen ausgeführt worden sind. Die Ausübung des Vorsteuerabzugs setzt voraus, dass der Unternehmer eine nach den §§ 14, 14a ausgestellte Rechnung besitzt. …“
§ 18 Abs. 9 Satz 3 UStG lautet:
„Der Vergütungsantrag ist binnen sechs Monaten nach Ablauf des Kalenderjahres zu stellen, in dem der Vergütungsanspruch entstanden ist.“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
ADV, eine Gesellschaft deutschen Rechts, betrieb im Jahr 2005 die Vermittlung selbständig tätiger Lastkraftwagenfahrer an Speditionen mit Sitz in Deutschland und außerhalb dieses Mitgliedstaats, insbesondere in Italien. Nach den zwischen ADV und den Fahrern geschlossenen Verträgen, die als „Vermittlungsverträge“ bezeichnet wurden, hatten die Fahrer ihre Dienstleistungen ADV in Rechnung zu stellen. ADV stellte ihrerseits den verschiedenen Speditionen, die ihre Abnehmer waren, Rechnungen über die in diesen Vermittlungsverträgen vorgesehenen Kosten zuzüglich einer Marge von 8 % bis 20 %.
Ursprünglich stellte ADV den italienischen Kunden Rechnungen, die keine Mehrwertsteuer enthielten. Ihres Erachtens waren diese Leistungen nämlich als „Gestellung von Personal“ im Sinne von § 3a Abs. 4 Nr. 7 UStG einzustufen, so dass sich der Ort der Dienstleistungen in Italien befand, wo die Abnehmer ihren Sitz hatten.
Das Finanzamt entschied, dass die fraglichen Leistungen nicht als „Gestellung von Personal“ eingestuft werden könnten und dass sich der Ort der Dienstleistung daher nach § 3a Abs. 1 UStG am Ort des Sitzes ihres Erbringers befinde. Daher sei die Mehrwertsteuer in Deutschland in Rechnung zu stellen.
Das für die Entscheidung über die im Ausgangsverfahren von den italienischen Abnehmern gestellten Anträge auf Vorsteuervergütung zuständige Bundeszentralamt für Steuern vertrat dagegen die Auffassung, dass die von ADV erbrachten Leistungen „Gestellung von Personal“ seien und daher in Deutschland keine Mehrwertsteuer in Rechnung zu stellen sei. Da diese Leistungen seiner Meinung nach gemäß § 3a Abs. 3 Satz 1 UStG am Ort des Sitzes der Abnehmer, also in Italien, hätten besteuert werden müssen, versagte es den italienischen Unternehmen die Erstattung der deutschen Mehrwertsteuer.
Das mit dem Rechtsstreit befasste Finanzgericht Hamburg führt zunächst aus, da nach dem siebten Erwägungsgrund der Sechsten Richtlinie der in Art. 9 Abs. 2 dieser Richtlinie enthaltene Katalog „insbesondere … bestimmte … Dienstleistungen, deren Kosten in den Preis der Waren eingehen“, umfasse, lasse sich vertreten, dass diese Bestimmung auch für die Vermittlung Selbständiger gelte; insoweit blieben allerdings Zweifel bestehen.
Sodann wirft das Finanzgericht Hamburg zum einen die Frage auf, ob die beim Erbringer der Dienstleistungen entstandene Mehrwertsteuerschuld und das Recht des Abnehmers auf Vorsteuererstattung nicht zwangsläufig miteinander verknüpft seien, insbesondere wegen des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität, und zum anderen, ob diese Verknüpfung eine Verpflichtung der zuständigen nationalen Behörden begründe, einander widersprechende Entscheidungen auszuschließen.
Schließlich möchte das Finanzgericht Hamburg wissen, ob die Frist von sechs Monaten, die dem Abnehmer für die Stellung eines Vergütungsantrags gewährt werde und die mit Ablauf des Kalenderjahrs, in dem der Vergütungsanspruch entstanden sei, zu laufen beginne, bis zu einer Entscheidung über die steuerliche Situation des Erbringers der Dienstleistung ausgesetzt oder unterbrochen werden müsse.
Unter diesen Umständen hat das Finanzgericht Hamburg beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Ist Art. 9 Abs. 2 Buchst. e sechster Gedankenstrich der Sechsten Richtlinie dahin auszulegen, dass „Gestellung von Personal“ auch die Gestellung von selbständigem, nicht beim leistenden Unternehmer abhängig beschäftigtem Personal umfasst?
Sind Art. 17 Abs. 1, 2 Buchst. a und 3 Buchst. a sowie Art. 18 Abs. 1 Buchst. a der Sechsten Richtlinie dahin auszulegen, dass das nationale Verfahrensrecht Vorkehrungen dafür treffen muss, dass die Steuerbarkeit und Steuerpflicht ein und derselben Leistung beim leistenden und beim leistungsempfangenden Unternehmer gleich beurteilt wird, auch wenn für beide Unternehmer verschiedene Finanzbehörden zuständig sind?
Nur falls die zweite Frage bejaht wird:
Sind Art. 17 Abs. 1, 2 Buchst. a und 3 Buchst. a sowie Art. 18 Abs. 1 Buchst. a der Sechsten Richtlinie dahin auszulegen, dass die Frist, binnen deren der Leistungsempfänger den Vorsteuerabzug für eine erhaltene Leistung geltend machen kann, nicht ablaufen darf, bevor über die Steuerbarkeit und Steuerpflicht gegenüber dem leistenden Unternehmer rechtskräftig entschieden ist?
Zu den Vorlagefragen
Zur ersten Frage
Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 9 Abs. 2 Buchst. e sechster Gedankenstrich der Sechsten Richtlinie dahin auszulegen ist, dass der Begriff „Gestellung von Personal“ auch die Gestellung von selbständigem, nicht beim leistenden Unternehmer abhängig beschäftigtem Personal umfasst.
Vorab ist darauf hinzuweisen, dass sich – wie sowohl das vorlegende Gericht als auch die Beteiligten, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, ausgeführt haben – weder dem Wortlaut des Art. 9 Abs. 2 Buchst. e sechster Gedankenstrich der Sechsten Richtlinie noch einem Vergleich der verschiedenen Sprachfassungen dieser Bestimmung entnehmen lässt, ob selbständige Erwerbstätige als „Personal“ im Sinne dieser Bestimmung angesehen werden können.
Allerdings lässt sich in Anbetracht des Wortlauts von Art. 9 Abs. 2 Buchst. e sechster Gedankenstrich der Sechsten Richtlinie aus den vom Generalanwalt in den Nrn. 26 und 27 seiner Schlussanträge angeführten Gründen nicht von vornherein ausschließen, dass diese Bestimmung auch auf die Gestellung von selbständig erwerbstätigem „Personal“ Anwendung findet.
Nach ständiger Rechtsprechung sind bei der Auslegung einer Unionsvorschrift aber nicht nur ihr Wortlaut, sondern auch ihr Zusammenhang und die Ziele zu berücksichtigen, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden (vgl. u. a. Urteil vom 9. März 2006, Gillan Beach, C-114/05, Slg. 2006, I-2427, Randnr. 21 und die dort angeführte Rechtsprechung).
In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass Art. 9 der Sechsten Richtlinie Regeln zur Bestimmung des steuerlichen Anknüpfungspunkts bei Dienstleistungen enthält. Während Abs. 1 dieser Vorschrift insoweit eine allgemeine Regel aufstellt, führt Abs. 2 eine Reihe besonderer Anknüpfungspunkte auf. Mit diesen Bestimmungen sollen nach ständiger Rechtsprechung einerseits Kompetenzkonflikte, die zu einer Doppelbesteuerung führen könnten, und andererseits die Nichtbesteuerung von Einnahmen verhindert werden (vgl. u. a. Urteile vom 26. September 1996, Dudda, C-327/94, Slg. 1996, I-4595, Randnr. 20, Gillan Beach, Randnr. 14, und vom 6. November 2008, Kollektivavtalsstiftelsen TRR Trygghetsrådet, C-291/07, Slg. 2008, I-8255, Randnr. 24).
Eine Auslegung von Art. 9 Abs. 2 Buchst. e sechster Gedankenstrich der Sechsten Richtlinie, nach der der dort verwendete Begriff „Personal“ nicht nur abhängig beschäftigte Arbeitnehmer, sondern auch selbständige Erwerbstätige umfasst, steht mit dem Zweck einer Kollisionsnorm wie der in Art. 9 der Richtlinie niedergelegten, mit der die Gefahren der Doppelbesteuerung und der Nichtbesteuerung vermieden werden sollen, besser im Einklang.
Mit der steuerlichen Anknüpfung der betreffenden Dienstleistung an einen einzigen Ort verhindert es diese Auslegung gerade, dass die Dienstleistung doppelt besteuert oder auf sie gar keine Mehrwertsteuer erhoben wird.
Diese Auslegung ist auch geeignet, die Anwendung der genannten Kollisionsnorm zu erleichtern, indem sie eine einfache Handhabung der Regeln über die Steuererhebung und die Bekämpfung der Steuerflucht im Hinblick auf den Ort der Erbringung der Dienstleistung ermöglicht, da der Abnehmer die Rechtsnatur der Beziehungen zwischen dem Leistungserbringer und dem gestellten „Personal“ nicht zu erforschen braucht.
Darüber hinaus entspricht diese Auslegung dem Grundsatz der Rechtssicherheit, da sie die Bestimmung des Ortes, an den in Bezug auf die Dienstleistung anzuknüpfen ist, vorhersehbarer macht, die Anwendung der Bestimmungen der Sechsten Richtlinie vereinfacht und dazu beiträgt, eine genaue und korrekte Erhebung der Mehrwertsteuer zu gewährleisten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Oktober 2011, Stoppelkamp, C-421/10, Slg. 2011, I-9309, Randnr. 34).
Angesichts dieser Erwägungen ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 9 Abs. 2 Buchst. e sechster Gedankenstrich der Sechsten Richtlinie dahin auszulegen ist, dass der in dieser Bestimmung verwendete Begriff „Gestellung von Personal“ auch die Gestellung von selbständigem, nicht beim leistenden Unternehmer abhängig beschäftigtem Personal umfasst.
Zur zweiten Frage
Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 17 Abs. 1, 2 Buchst. a und 3 Buchst. a sowie Art. 18 Abs. 1 Buchst. a der Sechsten Richtlinie dahin auszulegen sind, dass die Mitgliedstaaten ihr nationales Verfahrensrecht so gestalten müssen, dass die Steuerbarkeit und die Mehrwertsteuerpflicht einer Dienstleistung beim Leistungserbringer und beim Leistungsempfänger in kohärenter Weise beurteilt werden, auch wenn für sie verschiedene Finanzbehörden zuständig sind.
Insoweit ist dem vorlegenden Gericht beizupflichten, dass die Sechste Richtlinie keine Bestimmung enthält, die ausdrücklich vorsieht, dass die Mitgliedstaaten eine Maßnahme wie die in der Vorlagefrage angesprochene erlassen müssen.
Nach ständiger Rechtsprechung ist es mangels einer einschlägigen Unionsregelung Aufgabe des innerstaatlichen Rechts der einzelnen Mitgliedstaaten, u. a. die zuständigen Behörden zu bestimmen und die Modalitäten der Verfahren zu regeln, die den Schutz der dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen, wobei diese Modalitäten jedoch nicht weniger günstig ausgestaltet sein dürfen als die entsprechender innerstaatlicher Rechtsbehelfe (Äquivalenzgrundsatz) und die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren dürfen (Effektivitätsgrundsatz) (vgl. u. a. Urteile vom 17. November 1998, Aprile, C-228/96, Slg. 1998, I-7141, Randnr. 18, und vom 21. Januar 2010, Alstom Power Hydro, C-472/08, Slg. 2010, I-623, Randnr. 17).
Zum Äquivalenzgrundsatz ist festzustellen, dass der Gerichtshof im vorliegenden Fall keinen Anhaltspunkt dafür hat, dass Zweifel an der Vereinbarkeit einer Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden mit diesem Grundsatz bestehen könnten.
Dagegen hat insbesondere das vorlegende Gericht Zweifel daran geäußert, dass ein solcher Sachverhalt den Anforderungen des Effektivitätsgrundsatzes entspricht. Mangels spezieller Vorschriften im nationalen Verfahrensrecht verlöre das vom Gerichtshof im Urteil vom 13. Dezember 1989, Genius (C-342/87, Slg. 1989, I-4227), anerkannte Recht des Dienstleistungserbringers und des Dienstleistungsempfängers, hinsichtlich der Steuerbarkeit und der Mehrwertsteuerpflicht ein und derselben Leistung gleich behandelt zu werden, de facto nämlich jede praktische Wirksamkeit.
In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass der Effektivitätsgrundsatz als verletzt gilt, wenn sich erweist, dass die Ausübung eines durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechts unmöglich gemacht oder übermäßig erschwert wird.
Dies scheint jedoch in einem Verfahren wie dem Ausgangsrechtsstreit nicht der Fall zu sein.
Zum einen betrifft das Urteil Genius, wie der Generalanwalt in Nr. 70 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, lediglich den Umfang des Rechts auf Vorsteuerabzug. Es enthält keine Ausführungen zur Frage, ob der Erbringer oder der Empfänger einer Dienstleistung Anspruch darauf hat, dass diese Leistung in einem Verfahren, das von dem anderen am mehrwertsteuerpflichtigen Umsatz Beteiligten bei einer anderen als der für ihn zuständigen Behörde eingeleitet wurde, insbesondere hinsichtlich des Ortes ihrer Erbringung ebenso qualifiziert wird wie von den Behörden oder Gerichten, denen er unterworfen ist.
Zum anderen ist festzustellen, dass sowohl der Erbringer der Dienstleistung als auch deren Empfänger die Möglichkeit haben, ihre Rechte nicht nur gegenüber den Verwaltungsbehörden, sondern auch vor den für Mehrwertsteuersachen zuständigen Gerichten im Rahmen von Verfahren geltend zu machen, deren Eignung, grundsätzlich eine korrekte und einheitliche Auslegung und Anwendung der Bestimmungen der Sechsten Richtlinie sicherzustellen, außer Streit steht.
Die einheitliche Auslegung und Anwendung des Unionsrechts wird nämlich letztlich durch das Vorabentscheidungsverfahren zur Auslegung oder Beurteilung der Gültigkeit des Unionsrechts nach Art. 267 AEUV gewährleistet, das ein System der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof schafft. Aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten ergibt sich jedoch nicht, dass eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende es nicht erlaubt, das ordnungsgemäße Funktionieren dieser gerichtlichen Zusammenarbeit zu gewährleisten.
Sollte sich jedoch herausstellen, dass – auch ohne dass Fragen nach der Auslegung oder Gültigkeit vorgelegt wurden oder in dem Fall, dass sich die zuständigen Gerichte sogar weigern, den Gerichtshof um eine Vorabentscheidung über die Auslegung oder die Gültigkeit des Unionsrechts zu ersuchen – verschiedene Behörden und/oder Gerichte eines Mitgliedstaats weiterhin systematisch unterschiedliche Auffassungen über die Anknüpfung ein und derselben Dienstleistung in Bezug auf den Leistungserbringer einerseits und den Leistungsempfänger andererseits vertreten, so dass insbesondere der Grundsatz der steuerlichen Neutralität verletzt wird, könnte dies als Verstoß gegen die Verpflichtungen des Mitgliedstaats aus der Sechsten Richtlinie angesehen werden.
Selbst wenn nämlich in Art. 17 Abs. 1, 2 Buchst. a und 3 Buchst. a sowie in Art. 18 Abs. 1 Buchst. a der Sechsten Richtlinie der konkrete Inhalt der zur Sicherstellung der korrekten Erhebung der Mehrwertsteuer und zur Wahrung des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität zu ergreifenden administrativen oder sonstigen Maßnahmen nicht genau festgelegt ist, binden diese Vorschriften die Mitgliedstaaten gleichwohl hinsichtlich des zu erreichenden Ziels, wobei sie ihnen zugleich bei der Bewertung der Erforderlichkeit solcher Maßnahmen einen Spielraum belassen.
Unter diesen Umständen ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 17 Abs. 1, 2 Buchst. a und 3 Buchst. a sowie Art. 18 Abs. 1 Buchst. a der Sechsten Richtlinie dahin auszulegen sind, dass sie den Mitgliedstaaten nicht vorschreiben, ihr nationales Verfahrensrecht so zu gestalten, dass die Steuerbarkeit und die Mehrwertsteuerpflicht einer Dienstleistung beim Leistungserbringer und beim Leistungsempfänger in kohärenter Weise beurteilt werden, auch wenn für sie verschiedene Finanzbehörden zuständig sind. Diese Bestimmungen verpflichten die Mitgliedstaaten jedoch, die zur Sicherstellung der korrekten Erhebung der Mehrwertsteuer und zur Wahrung des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität erforderlichen Maßnahmen zu treffen.
Zur dritten Frage
In Anbetracht der Antwort auf die zweite Frage ist die dritte Frage nicht zu beantworten.
Kosten
Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Gründe
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:
Art. 9 Abs. 2 Buchst. e sechster Gedankenstrich der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage ist dahin auszulegen, dass der in dieser Bestimmung verwendete Begriff„Gestellung von Personal“auch die Gestellung von selbständigem, nicht beim leistenden Unternehmer abhängig beschäftigtem Personal umfasst.
Art. 17 Abs. 1, 2 Buchst. a und 3 Buchst. a sowie Art. 18 Abs. 1 Buchst. a der Sechsten Richtlinie 77/388 sind dahin auszulegen, dass sie den Mitgliedstaaten nicht vorschreiben, ihr nationales Verfahrensrecht so zu gestalten, dass die Steuerbarkeit und die Mehrwertsteuerpflicht einer Dienstleistung beim Leistungserbringer und beim Leistungsempfänger in kohärenter Weise beurteilt werden, auch wenn für sie verschiedene Finanzbehörden zuständig sind. Diese Bestimmungen verpflichten die Mitgliedstaaten jedoch, die zur Sicherstellung der korrekten Erhebung der Mehrwertsteuer und zur Wahrung des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität erforderlichen Maßnahmen zu treffen.
Unterschriften
( *1)Verfahrenssprache: Deutsch.
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