Interview Gesundheitssystem

„Jeder Mensch kann von Diskriminierung betroffen sein“

20.06.2024 Vera Laumann 6 Min. Lesedauer

Rassismus ist für viele Menschen in Deutschland Alltag. Wie sieht es damit im Gesundheitssektor aus? Dr. Pedram Emami über Ursachen, Ausmaß und Folgen von Rassismus und Diskriminierung in der Medizin.

Foto: Zwei Frauen in blauer Pflegetracht und mit Stethoskop schauen mit verschränkten Armen in die Kamera.
Nicht nur Patientinnen und Patienten sind von Rassismus betroffen, sondern auch medizinisches Fachpersonal.

Herr Dr. Emami, gibt es Rassismus und Diskriminierung in der Medizin?

Emami: Rassismus ist ein gesamtgesellschaftliches Problem und zeigt sich auch in der Gesundheitsversorgung. Das belegen Studien wie der Nationale Diskriminierungs- und Rassis­mus-Monitor vom Bundesfamilienministerium. Demnach sind fast zehn Prozent aller Befragten bei Arztbesuchen schon einmal aufgrund ihrer Herkunft, Hautfarbe oder Religion diskriminiert worden.

Wie haben sich Diskriminierung und Rassismus in der Medizin in den vergangenen Jahren verändert?

Emami: So wie auch in der restlichen Gesellschaft. Das Bewusstsein für das Problem ist erfreulicherweise deutlich größer. Das führt einerseits dazu, dass vieles zum Glück entweder nicht mehr vorkommt, oder ein Vorkommnis zumindest aufgearbeitet wird. Die Kehrseite der Medaille ist, dass einiges auch perfider und subtiler abläuft als früher; man sucht sich einen Deckmantel, um die Diskriminierung nicht zu offensichtlich zu betreiben.

Können Sie bitte ein Beispiel für so einen Deckmantel nennen?

Emami: Nehmen Sie doch das Beispiel Frauen in der Chirurgie: Sie wurden jahrelang und werden teils heute noch systematisch benachteiligt, schlecht behandelt und nicht genug ausgebildet. Die geringe Zahl der Frauen in der Chirurgie wurde dann als Beweis genommen, dass Frauen für dieses Fach „weniger geeignet“ seien. In der heutigen Zeit ist es so, dass einzelne Kolleginnen gefördert werden, aber gleichzeitig anderen der Weg versperrt wird. Der Einzelfall wird dann als Beleg dafür missbraucht, dass es kein strukturelles Problem gibt, sondern dass die Ausnahme eben die (diskriminierende) Regel bestätigt. Da werden Ursache und Wirkung miteinander vertauscht.

Foto: Dr. Pedram Emami, Präsident der Ärztekammer Hamburg und Ober- arzt für Neurochirurgie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE)
Dr. Pedram Emami ist Präsident der Ärztekammer Hamburg. Es ist die erste Kammer mit einer Anti-Diskriminierungsstelle, die sich auch ausdrücklich an Ärztinnen und Ärzte richtet. Emami ist Oberarzt für Neurochirurgie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE).

Welche Folgen entstehen für Patientinnen und Patienten?

Emami: Alle Hilfesuchenden gleich zu behandeln, unabhängig von Glauben, ethnischer Herkunft, Staatsangehörigkeit oder Rasse – das schwören angehende Ärztinnen und Ärzte im sogenannten Genfer Gelöbnis. In der Praxis sieht das manchmal anders aus. Immer wieder erfahren Menschen mit Migrationshintergrund oder nicht weißer Hautfarbe in Arztpraxen oder Kliniken Benachteiligungen in Form von Vorurteilen, abfälligen Bemerkungen oder unzureichender Behandlung.

Wurden Sie persönlich als Arzt oder Patient schon Opfer von Rassismus oder Diskriminierung?

Emami: Als Arzt, als Patient, als Bürger, und zwar von Kollegen und Kolleginnen, Patienten und Patientinnen, Vorgesetzten und so weiter. Das ist leider alles schon vorgekommen. Und es war alles dabei: Von unbedachter Bemerkung über handfeste Beleidigung bis hin zur systematischen Benachteiligung.

Was muss für mehr Gleichberechtigung getan werden?

Emami: Um das Ausmaß greifen zu können, brauchen wir mehr wissenschaftliche Studien. Es gibt aber einfache Verbesserungsmöglichkeiten. In der Ausbildung des medizinischen Fachpersonals sollten beispielsweise Inhalte wie interkulturelle Kompetenz und Kommunikationstrainings mehr in den Vordergrund gerückt werden. Dazu sollte mehr Wert auf die Bewertung von Krankheitsbildern in unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen gelegt werden.

Was meinen Sie damit genau?

Ein klassisches Beispiel sind Hauterkrankungen bei dunkler Hautfarbe. Dieses Thema findet in der Ausbildung von Ärzten so gut wie gar nicht statt. Ebenso gehören auch geschlechterspezifische Besonderheiten der Versorgung auf die Agenda. Über die akademische Bildung in der Frage der Versorgung hinaus bleibt es aber eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, Chancengleichheit, Toleranz und respektvolles Miteinander zu pflegen und auszubauen. Man macht es sich zu einfach, das Problem auf beruflich-sektorale Aspekte zu reduzieren.

„Rassismus und Diskriminierung erschweren Karrieren, schaffen toxische Arbeitsumfelder und schaden im schlimmsten Fall auch den Patientinnen und Patienten. “

Dr. Pedram Emami

Was hat Sie beim Rassismus-Monitor besonders überrascht?

Emami: Ich finde es sehr bedauerlich, dass ein Aspekt gar keine Beachtung fand: nämlich die Diskriminierung von medizinischem Personal durch andere oder auch untereinander. Die Studie vermittelt den Eindruck, als ob nur Patientinnen und Patienten Diskriminierungserfahrung machen und das Fachpersonal eine Art „Täterprofil“ darstellt. In der Realität ist das aber mitnichten der Fall. Jeder Mensch kann von Diskriminierung betroffen sein, unabhängig davon, auf welcher „Seite“ der Medizin die Menschen stehen.

Welche Folgen kann Rassismus für medizinisches Personal haben?

Emami: Rassismus und Diskriminierung erschweren Karrieren, schaffen toxische Arbeitsumfelder und schaden im schlimmsten Fall auch den Patientinnen und Patienten. Das Perfide dabei: Die Diskriminierung vermehrt beziehungsweise verstärkt sich. Das Ergebnis: self fulfilling prophecy, also die sich selbst erfüllende Prophezeiung als Diskriminierungsstrategie sozusagen. Dies ist ein wichtiger Grund, warum Diskriminierung keinen Platz in unserer Gesellschaft haben darf und im Keim erstickt werden muss.

Kann die Politik auf dem Weg zu mehr Gleichberechtigung unterstützen?

Emami: Wir machen es uns zu einfach, wenn wir immer mit dem Finger auf die Politik zeigen, wo wir selbst als Zivilgesellschaft versagen. Wir haben vielerorts demokratisch legitimierte Organe in den Institutionen und Organisationen, die auch handeln können. Ärztekammern, Kassenärztliche Vereinigungen, Ombudsleute, Betriebsräte, Mitarbeitervertretungen, akademische Senate, aber auch Vorgesetzte und Vorstände selbst, um nur ein paar zu nennen. Wofür sind sie denn da, wenn sie nicht glaubwürdig für die Werte eintreten, die sie öffentlich propagieren und sich auf die Fahnen schreiben?

Wir sind aber noch weit von einer Gleichberechtigung entfernt…

Emami: Das ist richtig. Innerhalb eines Kollegiums müssen Themen wie Chancengleichheit dazu führen, dass Karrierewege für gleichwertig Qualifizierte fair und offen gestaltet sind, unabhängig von deren Geschlecht, Herkunft oder anderen Kriterien. Schaut man sich aber die Führungsetagen von Gesundheitseinrichtungen oder zum Beispiel die Lehrstuhlinhaberinnen und Lehrstuhlinhaber der medizinischen Fakultäten an, stellt man fest, dass der Durchschnitt nicht im Entferntesten das Spektrum der Absolventinnen und Absolventen wiedergibt.

Sie gehen in der Ärztekammer Hamburg mit gutem Beispiel voran und haben eine Anlaufstelle gegen Diskriminierung geschaffen – mit welchem Ziel?

Emami: Unsere Anti-Diskriminierungsstelle ist sowohl für Patientinnen und Patienten als auch für medizinisches Personal da. Wir wollen den Menschen Gehör verschaffen, aber auch eine Objektivierungsmöglichkeit geben, damit es bei diesem Thema nicht nur beim Lippenbekenntnis bleibt. Wir wollen, dass durch Objektivierung kein Raum für grundlose Anschuldigungen oder Diffamierungen bleibt. Denn nichts würde der Sache mehr schaden, als wenn wir nur mit Vorwürfen und Anklagen ohne Sachgrundlage arbeiten würden.

Bunte Illustration einer Frau, die auf einem OP-Tisch liegt mit Klinikpersonal um sie herum
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