Rechtsdatenbank
Welche Fragen Arbeitgeber auch zum Thema Sozialversicherungsrecht bewegen: Die Rechtsdatenbank der AOK liefert die Antworten – einfach, fundiert und topaktuell.
Rechtsdatenbank
Welche Fragen Arbeitgeber auch zum Thema Sozialversicherungsrecht bewegen: Die Rechtsdatenbank der AOK liefert die Antworten – einfach, fundiert und topaktuell.
EuGH 25.05.2023 - C-141/22
EuGH 25.05.2023 - C-141/22 - URTEIL DES GERICHTSHOFS (Siebte Kammer) - 25. Mai 2023 ( *1) - „Vorlage zur Vorabentscheidung – Lebensmittelsicherheit – Neuartige Lebensmittel – Verordnung (EU) 2015/2283 – Buchweizenkeimlingsmehl mit hohem Spermidingehalt – Keimung von Buchweizensaat in einer spermidinhaltigen Nährlösung“
Leitsatz
In der Rechtssache C-141/22
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Landesgericht für Zivilrechtssachen Graz (Österreich) mit Beschluss vom 17. Februar 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 28. Februar 2022, in dem Verfahren
TLL The Longevity Labs GmbH
gegen
Optimize Health Solutions mi GmbH,
BM
erlässt
DER GERICHTSHOF (Siebte Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin M. L. Arastey Sahún sowie der Richter F. Biltgen und J. Passer (Berichterstatter),
Generalanwalt: M. Campos Sánchez-Bordona,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
der TLL The Longevity Labs GmbH, vertreten durch Rechtsanwalt J. Hütthaler-Brandauer,
der Optimize Health Solutions mi GmbH, vertreten durch Rechtsanwalt M. Kasper,
von BM, vertreten durch Rechtsanwälte M. Grube und M. Kasper,
der griechischen Regierung, vertreten durch K. Konsta und E. Leftheriotou als Bevollmächtigte,
der Europäischen Kommission, vertreten durch B.-R. Killmann und B. Rous Demiri als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 19. Januar 2023
folgendes
Entscheidungsgründe
Urteil
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 3 Abs. 2 Buchst. a Ziff. iv und vii der Verordnung (EU) 2015/2283 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2015 über neuartige Lebensmittel, zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 1169/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 258/97 des Europäischen Parlaments und des Rates und der Verordnung (EG) Nr. 1852/2001 der Kommission (ABl. 2015, L 327, S. 1) sowie von Art. 2 Buchst. c der Verordnung (EG) Nr. 178/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28. Januar 2002 zur Festlegung der allgemeinen Grundsätze und Anforderungen des Lebensmittelrechts, zur Errichtung der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit und zur Festlegung von Verfahren zur Lebensmittelsicherheit (ABl. 2002, L 31, S. 1).
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der TLL The Longevity Labs GmbH (im Folgenden: TLL) auf der einen Seite und der Optimize Health Solutions mi GmbH (im Folgenden: Optimize Health) sowie ihrem Geschäftsführer BM auf der anderen Seite, in dem es um den Vorwurf unlauterer Wettbewerbshandlungen geht.
Rechtlicher Rahmen
Verordnung Nr. 178/2002
In Art. 2 („Definition von ‚Lebensmittel‘“) der Verordnung Nr. 178/2002 heißt es:
„Im Sinne dieser Verordnung sind ‚Lebensmittel‘ alle Stoffe oder Erzeugnisse, die dazu bestimmt sind oder von denen nach vernünftigem Ermessen erwartet werden kann, dass sie in verarbeitetem, teilweise verarbeitetem oder unverarbeitetem Zustand von Menschen aufgenommen werden.
Zu ‚Lebensmitteln‘ zählen auch Getränke, Kaugummi sowie alle Stoffe – einschließlich Wasser –, die dem Lebensmittel bei seiner Herstellung oder Ver- oder Bearbeitung absichtlich zugesetzt werden. …
Nicht zu ‚Lebensmitteln‘ gehören:
…
c) Pflanzen vor dem Ernten,
…“
Verordnung 2015/2283
Nach Art. 3 („Begriffsbestimmungen“) Abs. 2 der Verordnung 2015/2283
„(2) … bezeichnet der Ausdruck:
‚neuartige Lebensmittel‘ alle Lebensmittel, die vor dem 15. Mai 1997 unabhängig von den Zeitpunkten der Beitritte von Mitgliedstaaten zur Union nicht in nennenswertem Umfang in der Union für den menschlichen Verzehr verwendet wurden und in mindestens eine der folgenden Kategorien fallen:
…
Lebensmittel, die aus Pflanzen oder Pflanzenteilen bestehen oder daraus isoliert oder erzeugt wurden, ausgenommen Fälle, in denen das Lebensmittel eine Verwendungsgeschichte als sicheres Lebensmittel in der Union hat und das Lebensmittel aus einer Pflanze oder einer Sorte derselben Pflanzenart besteht oder daraus isoliert oder erzeugt wurde, die ihrerseits gewonnen wurde mit Hilfe
herkömmlicher Vermehrungsverfahren, die vor dem 15. Mai 1997 in der Union zur Lebensmittelerzeugung eingesetzt wurden, oder
nicht herkömmlicher Vermehrungsverfahren, die vor dem 15. Mai 1997 in der Union nicht zur Lebensmittelerzeugung eingesetzt wurden, sofern diese Verfahren nicht bedeutende Veränderungen der Zusammensetzung oder Struktur des Lebensmittels bewirken, die seinen Nährwert, seine Verstoffwechselung oder seinen Gehalt an unerwünschten Stoffen beeinflussen,
…
Lebensmittel, bei deren Herstellung ein vor dem 15. Mai 1997 in der Union für die Herstellung von Lebensmitteln nicht übliches Verfahren angewandt worden ist, das bedeutende Veränderungen der Zusammensetzung oder Struktur eines Lebensmittels bewirkt, die seinen Nährwert, seine Verstoffwechselung oder seinen Gehalt an unerwünschten Stoffen beeinflussen,
…
‚Verwendungsgeschichte als sicheres Lebensmittel in einem Drittland‘ den Sachverhalt, dass die Sicherheit des fraglichen Lebensmittels vor einer Meldung gemäß Artikel 14 durch Daten über die Zusammensetzung und durch Erfahrungen mit der fortgesetzten Verwendung über mindestens 25 Jahre hinweg als Bestandteil der üblichen Ernährung einer signifikanten Anzahl an Personen in mindestens einem Drittland belegt worden ist;
…“
Art. 6 („Unionsliste zugelassener neuartiger Lebensmittel“) dieser Verordnung lautet:
„(1) Die Kommission erstellt eine Liste der gemäß den Artikeln 7, 8 und 9 für das Inverkehrbringen in der Union zugelassenen neuartigen Lebensmittel (im Folgenden ‚Unionsliste‘) und hält sie auf dem neuesten Stand.
(2) Nur zugelassene und in der Unionsliste aufgeführte neuartige Lebensmittel dürfen nach Maßgabe der in der Liste festgelegten Bedingungen und Kennzeichnungsvorschriften als solche in Verkehr gebracht oder in und auf Lebensmitteln verwendet werden.“
Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen
TLL und Optimize Health sind konkurrierende Unternehmen, die Nahrungsergänzungsmittel vertreiben. Optimize Health stellt ein Nahrungsergänzungsmittel her, das Buchweizenkeimlingsmehl mit einem hohen Spermidingehalt enthält (im Folgenden: in Rede stehendes Erzeugnis). Spermidin ist ein biogenes Polyamin, das in den Zellen aller Organismen in unterschiedlichen Konzentrationen vorkommt. Eine Zulassung durch die Europäische Kommission als neuartiges Lebensmittel nach der Verordnung 2015/2283 gibt es für das in Rede stehende Erzeugnis nicht. Es wird in einem Verfahren hergestellt, bei dem Buchweizensaat in einer Lösung, die synthetisches Spermidin enthält, zu Sprossen gekeimt wird. Nach der Ernte werden die Keimlinge mit Wasser gewaschen, getrocknet und zu Mehl gemahlen. Dabei entstehen nicht mehr Keimlinge als Saatkörner eingesetzt werden.
TLL stellt Lebensmittel mit einem hohen Spermidingehalt her, jedoch nach einem anderen Verfahren, das darin besteht, das Spermidin aus dem ungekeimten Weizenkeim zu extrahieren. TLL erhob beim vorlegenden Gericht Klage gegen Optimize Health auf Unterlassung des Vertriebs des in Rede stehenden Erzeugnisses und machte geltend, es handle sich um ein neuartiges Lebensmittel, das gemäß Art. 6 Abs. 2 der Verordnung 2015/2283 der Zulassung und der Aufnahme in die Unionsliste zugelassener neuartiger Lebensmittel bedürfe. Optimize Health habe dadurch, dass sie das in Rede stehende Erzeugnis in der Union in den Verkehr gebracht habe, ohne über eine Zulassung zu verfügen und ohne dass es in der Unionsliste zugelassener neuartiger Lebensmittel aufgeführt wäre, unlautere Wettbewerbshandlungen begangen.
Optimize Health entgegnet im Wesentlichen, dass es sich bei dem in Rede stehenden Erzeugnis um kein neuartiges Lebensmittel handle. Zunächst handle es sich bei der Keimung um einen Schritt der Primärproduktion im Sinne der Verordnung (EG) Nr. 852/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über Lebensmittelhygiene (ABl. 2004, L 139, S. 1). Sodann sei die Verordnung 2015/2283 nicht anwendbar, da eine Pflanze vor dem Ernten gemäß Art. 2 der Verordnung Nr. 178/2002 kein Lebensmittel sei. Schließlich sei Spermidin in der Union seit mehr als 25 Jahren erhältlich.
Unter diesen Umständen hat das Landesgericht für Zivilrechtssachen Graz (Österreich) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Ist Art. 3 Abs. 2 Buchst. a Ziff. iv der Verordnung 2015/2283 so auszulegen, dass „Buchweizenkeimlingsmehl mit hohem Spermidingehalt“ ein neuartiges Lebensmittel darstellt, sofern nur Buchweizenkeimlingsmehl mit einem nicht erhöhten Spermidingehalt vor dem 15. Mai 1997 in nennenswertem Umfang für den menschlichen Verzehr in der Europäischen Union verwendet wurde oder danach eine Verwendungsgeschichte als sicheres Lebensmittel hat, unabhängig davon, wie das Spermidin in das Buchweizenkeimlingsmehl gelangt?
Bei Verneinung der Frage 1: Ist Art. 3 Abs. 2 Buchst. a Ziff. vii der Verordnung 2015/2283 so auszulegen, dass der Begriff des Herstellungsverfahrens von Lebensmitteln auch Verfahren in der Primärproduktion umfasst?
Bei Bejahung der Frage 2: Kommt es für die Frage der Neuartigkeit eines Herstellungsverfahrens im Sinne des Art. 3 Abs. 2 Buchst. a Ziff. vii der Verordnung 2015/2283 darauf an, ob das Herstellungsverfahren an sich noch nie bei irgendeinem Lebensmittel oder ob es bei dem zu beurteilenden Lebensmittel nicht angewandt wurde?
Bei Verneinung der Frage 2: Handelt es sich beim Keimen von Buchweizensaat in einer spermidinhaltigen Nährlösung um ein Verfahren der Primärproduktion in Bezug auf eine Pflanze, auf die die lebensmittelrechtlichen Vorschriften, insbesondere die Verordnung 2015/2283, keine Anwendung finden, da die Pflanze vor dem Zeitpunkt der Ernte noch kein Lebensmittel ist (Art. 2 Buchst. c der Verordnung Nr. 178/2002)?
Macht es einen Unterschied, ob die Nährlösung natürliches oder synthetisches Spermidin enthält?
Zu den Anträgen auf Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens
Mit Schreiben, die am 23. bzw. 29. März 2023 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen sind, haben Optimize Health und BM die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens gemäß Art. 83 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs beantragt und im Wesentlichen geltend gemacht, dass relevante neue Tatsachen infolge eines Beschlusses des Oberlandesgerichts Wien (Österreich) vom 14. März 2023 zutage getreten seien, in dem dieses in Bezug auf das Buchweizenkeimlingsmehl mit hohem Spermidingehalt festgestellt habe, dass TLL ein Konsultationsverfahren für ein vergleichbares, aber fiktives Produkt angestrengt habe. Es handle sich dabei also um ein in jeder Hinsicht konstruiertes Verfahren. Die Kommission und die griechische Regierung hätten sich aber in ihren schriftlichen Erklärungen auf dieses Verfahren berufen, und der Generalanwalt habe in seinen Schlussanträgen eine Mitteilung der Republik Österreich an die Kommission über ebendieses Verfahren angesprochen.
Mit Schreiben, das am 27. April 2023 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingereicht worden ist, hat Optimize Health einen neuerlichen Antrag auf Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens gemäß Art. 83 der Verfahrensordnung gestellt und im Wesentlichen geltend gemacht, es seien relevante neue Tatsachen infolge eines Beschlusses des Oberlandesgerichts Wien vom 30. März 2023 zutage getreten, in dem dieses in Bezug auf ein Produkt, das mit dem in Rede stehenden Erzeugnis nahezu identisch sei, festgestellt habe, dass es nicht als neuartiges Lebensmittel angesehen werden könne.
Die Mitteilung der Republik Österreich an die Kommission kann, wie der Generalanwalt in Nr. 29 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, die Entscheidung im Vorlageverfahren nicht beeinflussen, da das vorlegende Gericht sie bei seinem Ersuchen nicht berücksichtigen konnte.
Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass die Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union und die Verfahrensordnung keine Möglichkeit für die Parteien vorsehen, eine Stellungnahme zu den Schlussanträgen des Generalanwalts einzureichen (Urteil vom 31. Januar 2023, Puig Gordi u. a., C-158/21, EU:C:2023:57, Rn. 37).
Zwar kann der Gerichtshof nach Art. 83 seiner Verfahrensordnung jederzeit nach Anhörung des Generalanwalts die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens beschließen, insbesondere wenn er sich für unzureichend unterrichtet hält oder wenn ein zwischen den Parteien nicht erörtertes Vorbringen entscheidungserheblich ist.
Der Gerichtshof ist jedoch nach Anhörung des Generalanwalts der Auffassung, dass die bei ihm gestellten Anträge auf Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens keine neue Tatsache offenbaren, die geeignet wäre, die Entscheidung, zu der er in der vorliegenden Rechtssache aufgerufen ist, zu beeinflussen, und dass er über alle Angaben verfügt, die er für die Beantwortung der Vorlagefragen benötigt.
Daher ist keine Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens zu beschließen.
Zu den Vorlagefragen
Zur ersten Frage
Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 3 Abs. 2 Buchst. a Ziff. iv der Verordnung 2015/2283 dahin auszulegen ist, dass ein Lebensmittel wie Buchweizenkeimlingsmehl mit hohem Spermidingehalt, das in der Union vor dem 15. Mai 1997 nicht in nennenswertem Umfang für den menschlichen Verzehr verwendet wurde, ein „neuartiges Lebensmittel“ im Sinne dieser Bestimmung darstellt.
Aus Art. 3 Abs. 2 Buchst. a Ziff. iv der Verordnung 2015/2283 ergibt sich, dass alle Lebensmittel, die vor dem 15. Mai 1997 nicht in nennenswertem Umfang in der Union für den Verzehr verwendet wurden, grundsätzlich „neuartige Lebensmittel“ im Sinne dieser Verordnung darstellen, wenn sie „aus Pflanzen oder Pflanzenteilen bestehen oder daraus isoliert oder erzeugt wurden“. Diese Bestimmung sieht jedoch vor, dass als Ausnahme von diesem Grundsatz die Einstufung als „neuartiges Lebensmittel“ für diese Art von aus Pflanzen bestehenden oder erzeugten Lebensmitteln nicht zur Anwendung kommt, sofern zwei kumulative Voraussetzungen erfüllt sind. Erstens muss das betreffende Lebensmittel „eine Verwendungsgeschichte als sicheres Lebensmittel in der Union“ haben. Zweitens muss es sich um ein Lebensmittel handeln, das „aus einer Pflanze oder einer Sorte derselben Pflanzenart besteht oder daraus isoliert oder erzeugt wurde, die ihrerseits gewonnen wurde mit Hilfe
herkömmlicher Vermehrungsverfahren, die vor dem 15. Mai 1997 in der Union zur Lebensmittelerzeugung eingesetzt wurden, oder
nicht herkömmlicher Vermehrungsverfahren, die vor dem 15. Mai 1997 in der Union nicht zur Lebensmittelerzeugung eingesetzt wurden, sofern diese Verfahren nicht bedeutende Veränderungen der Zusammensetzung oder Struktur des Lebensmittels bewirken, die seinen Nährwert, seine Verstoffwechselung oder seinen Gehalt an unerwünschten Stoffen beeinflussen“.
Im vorliegenden Fall geht aus dem Vorlagebeschluss im Wesentlichen hervor, dass es sich bei dem in Rede stehenden Erzeugnis, das vor dem 15. Mai 1997 in der Union nicht in nennenswertem Umfang für den menschlichen Verzehr verwendet wurde, um ein mit Spermidin angereichertes Mehl handelt, das aus einer Pflanze, dem Buchweizen, d. h. aus einer „Pflanze“ im Sinne von Art. 3 Abs. 2 Buchst. a Ziff. iv der Verordnung 2015/2283, gewonnen wird. Die Keimlinge dieser Pflanze werden nach dem Trocknen und Mahlen zur Herstellung dieses Mehls verwendet, so dass angesichts dieser Umstände und vorbehaltlich der dem vorlegenden Gericht zukommenden Überprüfungen grundsätzlich davon auszugehen wäre, dass das in Rede stehende Erzeugnis unter den Begriff des neuartigen Lebensmittels im Sinne dieser Bestimmung fällt.
Es ist jedoch zu prüfen, ob die in Art. 3 Abs. 2 Buchst. a Ziff. iv der Verordnung 2015/2283 vorgesehene Ausnahme, die bei Erfüllung der beiden oben in Rn. 18 genannten kumulativen Voraussetzungen zugesteht, dass ein Lebensmittel nicht unter den Begriff „neuartige Lebensmittel“ fällt, auf ein Erzeugnis wie das in Rede stehende Anwendung findet.
Zur ersten dieser Voraussetzungen, wonach eine „Verwendungsgeschichte als sicheres Lebensmittel in der Union“ gegeben sein muss, ist festzustellen, dass sie inhaltlich in der Verordnung 2015/2283 nicht definiert wird. Allerdings präzisiert Art. 3 Abs. 2 Buchst. b dieser Verordnung in Bezug auf den Begriff „Verwendungsgeschichte als sicheres Lebensmittel in einem Drittland“, dass dieser greift, wenn „die Sicherheit des fraglichen Lebensmittels … durch Daten über die Zusammensetzung und durch Erfahrungen mit der fortgesetzten Verwendung über mindestens 25 Jahre hinweg als Bestandteil der üblichen Ernährung einer signifikanten Anzahl an Personen in mindestens einem Drittland belegt worden ist“.
Wie der Generalanwalt in Nr. 34 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, kann der Begriff „Verwendungsgeschichte als sicheres Lebensmittel in einem Drittland“, wie er in Art. 3 Abs. 2 Buchst. b der Verordnung 2015/2283 definiert ist, inhaltlich auf den Begriff „Verwendungsgeschichte als sicheres Lebensmittel in der Union“ im Sinne von Art. 3 Abs. 2 Buchst. a Ziff. iv dieser Verordnung übertragen werden. Es gibt nämlich keinen Grund für die Annahme, dass dem Begriff „Verwendungsgeschichte als sicheres Lebensmittel“ je danach unterschiedliche Bedeutung zukäme, ob er im Rahmen von Art. 3 Abs. 2 Buchst. b der Verordnung 2015/2283 unter Bezugnahme auf ein Drittland oder im Rahmen von Art. 3 Abs. 2 Buchst. a Ziff. iv dieser Verordnung unter Bezugnahme auf ein Unionsland verwendet wird.
Vorbehaltlich der dem vorlegenden Gericht zukommenden Überprüfungen ist im vorliegenden Fall nicht ersichtlich, dass die Sicherheit des in Rede stehenden Erzeugnisses durch Daten über seine Zusammensetzung und durch Erfahrungen mit seiner fortgesetzten Verwendung über mindestens 25 Jahre hinweg als Bestandteil der üblichen Ernährung einer signifikanten Anzahl an Personen in mindestens einem Unionsland belegt worden wäre, so dass das in Rede stehende Erzeugnis nicht die erste der beiden kumulativen Voraussetzungen erfüllen würde, die gefordert sind, um der Einstufung als neuartiges Lebensmittel nach Art. 3 Abs. 2 Buchst. a Ziff. iv der Verordnung 2015/2283 entgehen zu können.
Angesichts des kumulativen Charakters dieser Voraussetzungen und der in der vorstehenden Randnummer getroffenen Feststellung braucht das vorlegende Gericht die zweite dieser Voraussetzungen grundsätzlich nicht zu prüfen.
Für den Fall, dass das vorlegende Gericht zu dem Ergebnis gelangen sollte, dass das in Rede stehende Erzeugnis die erste dieser Voraussetzungen erfüllt, ist jedoch darauf hinzuweisen, dass nach der zweiten Voraussetzung die betreffenden Lebensmittel aus einer Pflanze bestehen oder erzeugt worden sein müssen, die ihrerseits mit Hilfe von Vermehrungsverfahren gewonnen wurde, die entweder vor dem 15. Mai 1997 in der Union zur Lebensmittelerzeugung eingesetzt wurden oder vor diesem Datum nicht zu diesem Zweck eingesetzt wurden, wobei in letzterem Fall überdies verlangt wird, dass diese Verfahren nicht „bedeutende Veränderungen der Zusammensetzung oder Struktur des Lebensmittels bewirken, die seinen Nährwert, seine Verstoffwechselung oder seinen Gehalt an unerwünschten Stoffen beeinflussen“.
Wie der Generalanwalt in Nr. 36 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, sind Vermehrungsverfahren zur Erzeugung neuer Pflanzen durch Reproduktion von Verfahren zu unterscheiden, die den gesamten Herstellungsprozess eines Lebensmittels umfassen.
Aus den Informationen in der dem Gerichtshof übermittelten Akte geht jedoch hervor, dass es sich bei der Verwendung einer wässrigen Spermidinlösung für die Züchtung von Buchweizenkeimlingen nicht um ein Verfahren zur Vermehrung der Pflanze im Sinne der vorstehenden Randnummer und von Art. 3 Abs. 2 Buchst. a Ziff. iv der Verordnung 2015/2283 handeln würde, sondern um ein Herstellungsverfahren zur Anreicherung dieser Keimlinge im Hinblick auf einen hohen Spermidingehalt. Bei einer solchen Konstellation, deren Überprüfung dem vorlegenden Gericht zukommt, wäre ein derartiges Herstellungsverfahren bei der Prüfung der zweiten der kumulativen Voraussetzungen nicht einschlägig.
Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 3 Abs. 2 Buchst. a Ziff. iv der Verordnung 2015/2283 dahin auszulegen ist, dass ein Lebensmittel wie Buchweizenkeimlingsmehl mit hohem Spermidingehalt, das in der Union vor dem 15. Mai 1997 nicht in nennenswertem Umfang für den menschlichen Verzehr verwendet wurde, ein „neuartiges Lebensmittel“ im Sinne dieser Bestimmung darstellt, da es erstens aus einer Pflanze gewonnen wird, zweitens nicht ersichtlich ist, dass seine Sicherheit durch Daten über seine Zusammensetzung und durch Erfahrungen mit seiner fortgesetzten Verwendung über mindestens 25 Jahre hinweg als Bestandteil der üblichen Ernährung einer signifikanten Anzahl an Personen in mindestens einem Unionsland belegt worden wäre und es drittens jedenfalls nicht mit Hilfe eines Vermehrungsverfahrens im Sinne dieser Bestimmung gewonnen wird.
Zu den Fragen 2 bis 5
In Anbetracht der Antwort auf die erste Frage sind die Fragen 2 bis 5 nicht zu beantworten.
Kosten
Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Gründe
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Siebte Kammer) für Recht erkannt:
Art. 3 Abs. 2 Buchst. a Ziff. iv der Verordnung (EU) 2015/2283 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2015 über neuartige Lebensmittel, zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 1169/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 258/97 des Europäischen Parlaments und des Rates und der Verordnung (EG) Nr. 1852/2001 der Kommission
ist dahin auszulegen, dass
ein Lebensmittel wie Buchweizenkeimlingsmehl mit hohem Spermidingehalt, das in der Europäischen Union vor dem 15. Mai 1997 nicht in nennenswertem Umfang für den menschlichen Verzehr verwendet wurde, ein „neuartiges Lebensmittel“ im Sinne dieser Bestimmung darstellt, da es erstens aus einer Pflanze gewonnen wird, zweitens nicht ersichtlich ist, dass seine Sicherheit durch Daten über seine Zusammensetzung und durch Erfahrungen mit seiner fortgesetzten Verwendung über mindestens 25 Jahre hinweg als Bestandteil der üblichen Ernährung einer signifikanten Anzahl an Personen in mindestens einem Unionsland belegt worden wäre und es drittens jedenfalls nicht mit Hilfe eines Vermehrungsverfahrens im Sinne dieser Bestimmung gewonnen wird.
Unterschriften
( *1)Verfahrenssprache: Deutsch.
Kontakt zur AOK Rheinland/Hamburg
Persönlicher Ansprechpartner
Firmenkundenservice
E-Mail-Service