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BSG 28.09.2011 - B 5 R 18/11 R
BSG 28.09.2011 - B 5 R 18/11 R - Erwerbsminderungsrente - Bezugszeiten vor Vollendung des 60. Lebensjahres - Rentenabschlag - Verfassungsmäßigkeit
Normen
§ 43 SGB 6 vom 20.12.2000, § 59 SGB 6 vom 20.12.2000, § 63 Abs 5 SGB 6 vom 20.12.2000, § 77 Abs 1 SGB 6 vom 20.12.2000, § 77 Abs 2 S 1 Nr 3 SGB 6 vom 20.12.2000, § 77 Abs 2 S 2 SGB 6 vom 20.12.2000, § 77 Abs 2 S 3 SGB 6 vom 20.12.2000, § 77 Abs 3 SGB 6 vom 20.12.2000, § 264c SGB 6 vom 19.02.2002, Anl 23 SGB 6 vom 19.02.2002, GG
Vorinstanz
vorgehend SG Aachen, 16. November 2006, Az: S 6 (14) R 8/05, Gerichtsbescheid
vorgehend Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, 9. Mai 2007, Az: L 8 R 353/06, Urteil
Tenor
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Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 9. Mai 2007 aufgehoben und die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Aachen vom 16. November 2006 zurückgewiesen.
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Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.
Tatbestand
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Die Beteiligten streiten darüber, ob die dem Kläger bewilligte Rente wegen Erwerbsminderung mit dem ungeminderten Zugangsfaktor von 1,0 oder mit einem Zugangsfaktor von 0,967 zu berechnen ist.
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Die Beklagte bewilligte dem am geborenen Kläger mit Bescheid vom 27.6.2003 eine Rente wegen Erwerbsminderung für die Zeit vom 1.5.2002 bis 31.12.2004. Laut Anlage 6 des Bescheids wurde der Zugangsfaktor von 1,0 um 0,051 auf 0,949 vermindert; der Rentenberechnung wurden dementsprechend anstelle von 21,3458 persönlichen Entgeltpunkten (EP) nur 20,2572 EP zu Grunde gelegt. Dies hatte eine Absenkung der Rentenhöhe um 5,111 % zur Folge, wodurch sich ab 1.5.2002 ein monatlicher Zahlbetrag von 512,79 Euro (brutto) ergab. Zugleich wurde im Versicherungsverlauf eine Zurechnungszeit von insgesamt 237 Monaten vom Eintritt der Erwerbsminderung am 17.10.2001 bis zum 31.7.2021 berücksichtigt. Dem "gegen die Höhe der Rente" gerichteten Widerspruch "half" die Beklagte insoweit "ab", als sie dem Kläger mit Bescheid vom 25.3.2004 rückwirkend ab 1.11.2001 eine Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Dauer gewährte. Laut Anlage 6 dieses Bescheids wurde der Zugangsfaktor von 1,0 um 0,033 auf 0,967 vermindert; der Rentenberechnung wurden dementsprechend anstelle von (nunmehr errechneten) 20,8242 persönlichen EP nur 20,1370 EP zu Grunde gelegt. Dies hatte eine Absenkung der Rentenhöhe um 3,3 % zur Folge, wodurch sich ab 1.11.2001 ein monatlicher Zahlbetrag von 996,98 DM (brutto) - entsprechend 509,75 Euro (brutto) - sowie ab 1.7.2002 von 520,74 Euro (brutto) ergab. Zugleich wurde im Versicherungsverlauf eine Zurechnungszeit von insgesamt 231 Monaten vom Eintritt der Erwerbsminderung am 17.10.2001 bis zum 31.1.2021 berücksichtigt. Im Übrigen wurde der Widerspruch des Klägers mit Widerspruchsbescheid vom 17.5.2005 zurückgewiesen.
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Mit Gerichtsbescheid vom 16.11.2006 hat das SG Aachen die Klage, mit der der Kläger eine höhere Rente unter Berücksichtigung weiterer "Beitrags- und Ausfallzeiten" beansprucht hat, abgewiesen. Mit Urteil vom 9.5.2007 hat das LSG Nordrhein-Westfalen der Berufung des Klägers, mit der dieser in der mündlichen Verhandlung vor dem LSG ausschließlich die Gewährung einer höheren Rente wegen voller Erwerbsminderung unter Zugrundelegung eines Zugangsfaktors von 1,0 begehrt hat, stattgegeben. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Der Kläger habe Anspruch auf die Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung mit dem Zugangsfaktor 1,0. Entgegen der Auffassung der Beklagten rechtfertige § 77 SGB VI nicht in der erforderlichen Bestimmtheit einen Rentenabschlag für Fälle, in denen - wie beim Kläger - Erwerbsminderungsrente vor dem 60. Lebensjahr gewährt werde. Der Senat schließe sich insoweit dem Urteil des BSG vom 16.5.2006 (B 4 RA 22/05 R - BSGE 96, 209 = SozR 4-2600 § 77 Nr 3) an.
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Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 77 Abs 2 Satz 1 Nr 3 SGB VI iVm Sätzen 2 und 3 sowie § 264c SGB VI. Die vom LSG vertretene Rechtsauffassung finde weder im Wortlaut und der Systematik noch in der Entstehungsgeschichte des § 77 SGB VI eine Bestätigung. § 77 Abs 2 Satz 1 Nr 3 SGB VI lasse vielmehr die Kürzung des Zugangsfaktors bei Renten wegen Erwerbsminderung auch dann zu, wenn der Rentenbezug vor der Vollendung des 60. Lebensjahres beginne, und sei mit diesem Inhalt verfassungsgemäß.
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Die Beklagte beantragt nach ihrem schriftsätzlichen Vorbringen,
das Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 9. Mai 2007 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des SG Aachen vom 16. November 2006 zurückzuweisen.
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Der Kläger beantragt nach seinem schriftsätzlichen Vorbringen,
die Revision der Beklagten zurückzuweisen.
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Er hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
Entscheidungsgründe
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Die Revision der Beklagten ist begründet. Dem Kläger steht kein Anspruch auf höhere Rente wegen Erwerbsminderung unter Berücksichtigung des Zugangsfaktors 1,0 zu.
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Der Monatsbetrag der Rente ergibt sich gemäß § 63 Abs 6, § 64 Nr 1 bis 3 SGB VI, wenn die unter Berücksichtigung des Zugangsfaktors ermittelten persönlichen EP, der Rentenartfaktor und der aktuelle Rentenwert mit ihrem Wert bei Rentenbeginn miteinander vervielfältigt werden.
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Der Zugangsfaktor ist ein Berechnungselement der persönlichen EP, dessen Höhe in § 77 SGB VI näher geregelt ist, hier in der ab dem 1.1.2001 geltenden und zum 1.1.2002 neu bekannt gemachten Fassung (BGBl I 2000 1827, BGBl I 2002 754). Danach richtet sich der Zugangsfaktor nach dem Alter der Versicherten bei Rentenbeginn oder Tod und bestimmt, ob die vom Versicherten während des Erwerbslebens erzielten EP in vollem Umfang oder nur zu einem Anteil bei der Ermittlung des Monatsbetrags der Rente als persönliche EP zu berücksichtigen sind. Der Zugangsfaktor ist für EP, die noch nicht Grundlage von persönlichen EP einer Rente waren, gemäß § 77 Abs 2 Satz 1 Nr 3 SGB VI bei Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit und bei Erziehungsrenten für jeden Kalendermonat, für den eine Rente vor Ablauf des Kalendermonats der Vollendung des 63. Lebensjahres in Anspruch genommen wird, um 0,003 niedriger als 1,0. So liegt der Fall beim Kläger. Er bezieht eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vor Vollendung des 63. Lebensjahres, denn zum Zeitpunkt des Beginns der Rente wegen voller Erwerbsminderung am 1.11.2001 hatte der im April 1963 geborene Kläger erst das 38. Lebensjahr vollendet (zur Auslegung des Begriffs "Rentenbeginn" im Sinne des Rentenzahlbeginns BSG SozR 4-2600 § 72 Nr 2).
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Beginnt eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vor Vollendung des 60. Lebensjahres, so bestimmt § 77 Abs 2 Satz 2 SGB VI, dass die Vollendung des 60. Lebensjahres für die "Bestimmung des Zugangsfaktors" maßgebend ist. Davon abweichend regelt § 264c SGB VI (in der ab dem 1.1.2001 geltenden und zum 1.1.2002 neu bekannt gemachten Fassung - BGBl I 2000 1827, BGBl I 2002 754; zur Neufassung ab 1.1.2008 Art 1 Nr 72 des Gesetzes zur Anpassung der Regelaltersgrenze an die demografische Entwicklung und zur Stärkung der Finanzierungsgrundlagen der gesetzlichen Rentenversicherung = RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz vom 20.4.2007, BGBl I 554), dass bei der Ermittlung des Zugangsfaktors anstelle der Vollendung des 60. Lebensjahres die Vollendung des in Anlage 23 zum SGB VI (in der bis 31.12.2007 geltenden Fassung; zur Aufhebung der Anlage 23 ab dem 1.1.2008 Art 1 Nr 83 des RV-Altersgrenzenanpassungsgesetzes) angegebenen Lebensalters maßgebend ist, wenn eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit - wie hier - vor dem 1.1.2004 beginnt.
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§ 77 Abs 2 Satz 2 SGB VI (ggf iVm § 264c SGB VI und der Anlage 23 zum SGB VI in der bis 31.12.2007 geltenden Fassung) ist als Berechnungsregel zur Umsetzung der allgemeinen Grundsätze zur Rentenhöhe iS des § 63 Abs 5 iVm § 64 Nr 1 SGB VI zu verstehen (so auch stellvertr: Bredt, NZS 2007, 192; Zweng/Scheerer/Buschmann/Dörr, Handbuch der Rentenversicherung, § 77 SGB VI RdNr 1, Stand 1/2009; Eicher/Haase/Rauschenbach, Die Rentenversicherung im SGB, § 77 SGB VI Anm 1, Stand 1/2008; Stahl in Hauck/Noftz, SGB VI, K § 77 RdNr 4, Stand 2/2002). Im Ergebnis ist der Zugangsfaktor bei Inanspruchnahme von Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vor Vollendung des 60. Lebensjahres um maximal 0,108 zu mindern und somit auf mindestens 0,892 festzulegen. Dafür sprechen Wortlaut und systematische Stellung des § 77 SGB VI wie auch Sinn und Zweck, systematischer Gesamtzusammenhang und Entstehungsgeschichte der Norm (ua Urteil des erkennenden Senats vom 14.8.2008 - B 5 R 32/07 R - BSGE 101, 193 = SozR 4-2600 § 77 Nr 5; zustimmend 13. Senat des BSG, Beschlüsse vom 26.6.2008 - B 13 R 9/08 S und B 13 R 11/08 S -, der auf Anfrage des erkennenden Senats die Rechtsprechung des vorher für die allgemeine Rentenversicherung zuständigen 4. Senats des BSG aufgegeben hat).
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Die Kürzung des Zugangsfaktors bei Renten wegen Erwerbsminderung nach § 77 SGB VI ist mit dem Grundgesetz vereinbar, auch wenn der Rentenbezug vor der Vollendung des 60. Lebensjahres beginnt (BVerfG SozR 4-2600 § 77 Nr 9).
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Die Beklagte hat den Zugangsfaktor im Fall des Klägers zutreffend mit 0,967 berechnet.
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Gemäß § 264c SGB VI iVm Anlage 23 zum SGB VI (in der bis 31.12.2007 geltenden Fassung) tritt bei der Ermittlung des Zugangsfaktors anstelle der Vollendung des 60. Lebensjahres im Fall des Klägers die Vollendung des 62. Lebensjahres zuzüglich eines Monats. Dies bedeutet, dass sich für jeden Kalendermonat nach dem 31.5.2025 (Ablauf des Kalendermonats der Vollendung des 62. Lebensjahres des Klägers zuzüglich eines Monats) bis zum 30.4.2026 (Ablauf des Kalendermonats der Vollendung des 63. Lebensjahres des Klägers), mithin für elf Monate, der Zugangsfaktor 1,0 um 0,003, insgesamt also um 0,033 verringert. Dies ergibt einen Zugangsfaktor von 0,967.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 und 4 SGG.
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