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BVerfG 17.08.2021 - 2 BvR 1086/21
BVerfG 17.08.2021 - 2 BvR 1086/21 - Stattgebender Kammerbeschluss: Verletzung des Willkürverbots (Art 3 Abs 1 GG) durch fachgerichtliche Anwendung einer temporal nicht einschlägigen Norm (hier: Anwendung des § 272 InsO nF auf Altverfahren entgegen der Übergangsvorschrift des Art 103m EGInsO)
Normen
Art 3 Abs 1 GG, § 93c Abs 1 S 1 BVerfGG, Art 103m EGInsO, § 272 InsO vom 07.12.2011, § 272 Abs 1 Nr 1 InsO vom 22.12.2020, § 272 Abs 1 Nr 2 InsO vom 22.12.2020, SanInsFoG
Vorinstanz
vorgehend AG Bitburg, 21. Mai 2021, Az: 9 IN 20/17, Beschluss
Tenor
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Der Beschluss des Amtsgerichts Bitburg vom 21. Mai 2021 - 9 IN 20/17 - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes.
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Der Beschluss wird aufgehoben. Die Sache wird an das Amtsgericht Bitburg zurückverwiesen.
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Damit erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.
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Das Land Rheinland-Pfalz hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen für das Verfassungsbeschwerdeverfahren zu erstatten.
Gründe
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I.
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1. Mit Beschluss des Amtsgerichts Bitburg vom 1. August 2017 - 9 IN 20/17 - wurde das Insolvenzverfahren über das Vermögen des Beschwerdeführers eröffnet und die Eigenverwaltung angeordnet.
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Im Jahr 2018 wurde das Unternehmen des Beschwerdeführers als Ganzes veräußert. Er ist seitdem bei dem Erwerber sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Im Februar 2021 zeigte die frühere "insolvenzrechtliche Generalbevollmächtigte" des Beschwerdeführers im Insolvenzverfahren an, dass sie zum 31. März 2021 ihr Mandat niederlege. Daraufhin regte der Sachwalter mit Schreiben vom 26. Februar 2021 an, die Eigenverwaltung aufzuheben. Aus seiner Sicht seien die objektiven Voraussetzungen einer Eigenverwaltung nicht mehr gegeben und aus der Verfahrensart der Eigenverwaltung kein Vorteil mehr für die Abwicklung des Insolvenzverfahrens ableitbar.
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2. Mit angegriffenem Beschluss vom 21. Mai 2021 hob das Amtsgericht Bitburg die Anordnung der Eigenverwaltung auf und ernannte den bisherigen Sachwalter zum Insolvenzverwalter. Zur Begründung führte es aus, die Aufhebung erfolge gemäß § 272 Abs. 1 Nr. 1 InsO, da der Schuldner gezeigt habe, dass er nicht bereit oder in der Lage sei, seine Geschäftsführung am Interesse der Gläubiger auszurichten. Es müsse davon ausgegangen werden, dass er in schwerwiegender Weise gegen die insolvenzrechtlichen Pflichten verstoßen habe. Die Aufhebung erfolge ferner gemäß § 272 Abs. 1 Nr. 2 InsO. Das Eigenverwaltungsziel einer Sanierung des Geschäftsbetriebs sei nicht mehr zu erreichen, weil der früher vom Schuldner betriebene landwirtschaftliche Betrieb inzwischen veräußert sei.
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3. Gegen diesen Beschluss legte der Beschwerdeführer mit Schriftsatz vom 2. Juni 2021 sofortige Beschwerde ein. Auf das vorliegende Insolvenzverfahren fänden gemäß Art. 103m EGInsO die bis zum 31. Dezember 2020 geltenden Vorschriften weiterhin Anwendung. Nach § 272 InsO a.F. sei eine Aufhebung der Anordnung der Eigenverwaltung von Amts wegen nicht zulässig.
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Das Amtsgericht half der sofortigen Beschwerde mit Beschluss vom 2. Juli 2021 nicht ab. Unbeschadet der Tatsache, dass die sofortige Beschwerde nach Ansicht des Amtsgerichts unzulässig sein dürfte, rechtfertigten die zur Begründung vorgetragenen Umstände keine andere Entscheidung.
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Eine Entscheidung des Landgerichts liegt noch nicht vor.
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4. Mit Schriftsatz vom 8. Juli 2021 beantragte eine Gläubigerin des Beschwerdeführers beim Amtsgericht, die Eigenverwaltung des Beschwerdeführers aufzuheben.
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II.
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1. Mit seiner am 19. Juni 2021 erhobenen Verfassungsbeschwerde wendet sich der Beschwerdeführer gegen den Beschluss des Amtsgerichts vom 21. Mai 2021. Der Rechtsweg sei erschöpft, weil nach dem Wortlaut von § 272 Abs. 2 InsO a.F. eine sofortige Beschwerde nur im Falle der Aufhebung der Anordnung der Eigenverwaltung auf Antrag eines einzelnen Gläubigers zulässig sei.
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Der Beschwerdeführer sieht sich durch den Beschluss des Amtsgerichts in Art. 3 Abs. 1 GG in Form des Willkürverbots sowie in Art. 20 Abs. 3 GG verletzt, da das Insolvenzgericht eine Norm angewendet habe, welche in der angewendeten Fassung aufgrund der Übergangsvorschrift des Art. 103m EGInsO auf das Insolvenzverfahren des Beschwerdeführers nicht anwendbar sei.
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2. Gleichzeitig hat der Beschwerdeführer Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß § 32 BVerfGG gestellt mit dem Ziel, die Wirkungen des Beschlusses vom 21. Mai 2021 bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde auszusetzen.
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3. Dem Ministerium der Justiz Rheinland-Pfalz und dem Insolvenzverwalter über das Vermögen des Beschwerdeführers wurde Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben. Das Ministerium der Justiz Rheinland-Pfalz hat ausdrücklich von einer Stellungnahme abgesehen.
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4. Die Akten des Ausgangsverfahrens haben der Kammer vorgelegen.
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III.
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Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde gemäß § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung des Grundrechts des Beschwerdeführers aus Art. 3 Abs. 1 GG angezeigt ist. Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung liegen vor (§ 93c BVerfGG). Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen Fragen hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden.
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1. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig.
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Sie scheitert insbesondere nicht an dem Gebot der Rechtswegerschöpfung im Sinne des § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG, auch wenn das Landgericht über die sofortige Beschwerde noch nicht entschieden hat. Es ist nicht ersichtlich, dass gegen den Beschluss des Amtsgerichts ein Rechtsmittel gegeben wäre. Gemäß § 6 Abs. 1 Satz 1 InsO unterliegen die Entscheidungen des Insolvenzgerichts nur in den Fällen einem Rechtsmittel, in denen die Insolvenzordnung die sofortige Beschwerde vorsieht. § 272 Abs. 2 InsO sieht sowohl nach der bis zum 31. Dezember 2020 geltenden Fassung (vgl. BGH, Beschluss vom 11. Januar 2007 - IX ZB 10/05 -, juris, Rn. 15; Riggert, in: Nerlich/Römermann, Stand: April 2018, § 272 InsO Rn. 6; Zipperer, in: Uhlenbruck, InsO, 15. Aufl. 2019, § 272 Rn. 7; Kern, in: MüKo/InsO, 4. Aufl. 2020, § 272 Rn. 65 f.) als auch nach der derzeitigen Fassung (vgl. Ellers/Kreutz, in: BeckOK/InsO, 23. Edition, Stand 15. April 2021, § 272 Rn. 33) die sofortige Beschwerde nur vor, wenn ein einzelner Gläubiger die Aufhebung der Anordnung der Eigenverwaltung beantragt. In dem hier vorliegenden Fall einer Aufhebung von Amts wegen ist deshalb ein Rechtsmittel nicht gegeben.
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2. Die Verfassungsbeschwerde ist auch begründet. Der angegriffene Beschluss des Amtsgerichts verstößt gegen Art. 3 Abs. 1 GG.
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a) Ein Richterspruch verstößt nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts dann gegen den allgemeinen Gleichheitssatz in seiner Ausprägung als Verbot objektiver Willkür (Art. 3 Abs. 1 GG), wenn er unter keinem denkbaren Aspekt rechtlich vertretbar ist und sich daher der Schluss aufdrängt, dass er auf sachfremden Erwägungen beruht. Das ist anhand objektiver Kriterien festzustellen. Schuldhaftes Handeln des Richters ist nicht erforderlich. Fehlerhafte Rechtsanwendung allein macht eine Gerichtsentscheidung nicht objektiv willkürlich. Schlechterdings unhaltbar ist eine fachgerichtliche Entscheidung vielmehr erst dann, wenn eine offensichtlich einschlägige Norm nicht berücksichtigt, der Inhalt einer Norm in krasser Weise missverstanden oder sonst in nicht mehr nachvollziehbarer Weise angewendet wird, die Rechtslage also in krasser Weise verkannt wird (vgl. BVerfGE 89, 1 13 f.>; 96, 189 203>; 112, 185 215 f.>).
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b) So liegt der Fall hier. Das Amtsgericht hat mit Art. 103m EGInsO eine offensichtlich einschlägige Norm nicht berücksichtigt.
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Nach dieser Vorschrift sind auf Insolvenzverfahren, die vor dem 1. Januar 2021 beantragt wurden, die bis dahin geltenden Vorschriften und nicht die durch das Gesetz zur Fortentwicklung des Sanierungs- und Insolvenzrechts (Sanierungs- und Insolvenzrechtsfortentwicklungsgesetz - SanInsFoG) vom 22. Dezember 2020 (BGBl I S. 3256) geänderten Vorschriften weiter anzuwenden.
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Demzufolge war für die Aufhebung der Anordnung der Eigenverwaltung § 272 InsO in der bis zum 31. Dezember 2020 geltenden Fassung maßgeblich. Danach war entweder der Antrag der Gläubigerversammlung, eines absonderungsberechtigten Gläubigers beziehungsweise Insolvenzgläubigers oder des Schuldners selbst notwendig. An einem solchen Antrag fehlt es hier. Selbst wenn man die Anregung des Sachwalters im Schreiben vom 26. Februar 2021 als Antrag verstehen wollte, würde dies nicht genügen, da er nicht antragsberechtigt war. Eine Aufhebung von Amts wegen sieht das maßgebliche Gesetz (anders als die durch das Sanierungs- und Insolvenzrechtsfortentwicklungsgesetz mit Wirkung vom 1. Januar 2021 neu gefasste Vorschrift des § 272 InsO) offensichtlich nicht vor.
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Damit ist das Amtsgericht Bitburg von einer Rechtslage ausgegangen, welche eindeutig nicht einschlägig ist. Die angegriffene Entscheidung ist unter keinem denkbaren Aspekt rechtlich vertretbar.
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IV.
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1. Der Beschluss des Amtsgerichts vom 21. Mai 2021 war daher aufzuheben und die Sache war an das Amtsgericht zurückzuverweisen (§ 95 Abs. 2 BVerfGG).
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Bei seiner erneuten Entscheidung wird das Amtsgericht auch Gelegenheit haben, - falls noch nicht geschehen - zugleich über den Antrag der Gläubigerin vom 8. Juli 2021 auf Aufhebung der Anordnung der Eigenverwaltung gemäß § 272 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 InsO a.F. zu entscheiden.
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2. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
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Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
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