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BVerfG 06.02.2021 - 1 BvR 249/21
BVerfG 06.02.2021 - 1 BvR 249/21 - Erfolgreicher Eilantrag wegen Verletzung des Anspruchs auf prozessuale Waffengleichheit in einem äußerungsrechtlichen eV-Verfahren - Darlegung eines besonders gewichtigen Feststellungsinteresses vorliegend entbehrlich, da Grundrechte von besonderer Bedeutung betroffen (Art 5 Abs 1 GG iVm Art 21 Abs 1 GG) - Folgenabwägung zugunsten der Antragstellerin bei offensichtlicher Zulässigkeit und Begründetheit der Verfassungsbeschwerde
Normen
Art 3 Abs 1 GG, Art 20 Abs 3 GG, Art 103 Abs 1 GG, § 32 Abs 1 BVerfGG, § 935 ZPO, § 937 Abs 2 ZPO
Vorinstanz
vorgehend LG Berlin, 26. Januar 2021, Az: 27 O 29/21, Beschluss
nachgehend BVerfG, 7. Juli 2021, Az: 1 BvR 249/21, Gegenstandswertfestsetzung im verfassungsgerichtlichen Verfahren
Tenor
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1. Der Beschluss des Landgerichts Berlin vom 26. Januar 2021 - 27 O 29/21 - verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem grundrechtsgleichen Recht auf prozessuale Waffengleichheit gemäß Artikel 3 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes. Seine Wirksamkeit wird bis zu einer Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde in der Hauptsache oder bis zu einer erneuten Entscheidung des Landgerichts, längstens jedoch für die Dauer von sechs Monaten ausgesetzt.
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2. Das Land Berlin hat der Beschwerdeführerin die notwendigen Auslagen im Verfahren über den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zu erstatten.
Gründe
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I.
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Die Verfassungsbeschwerde und der damit verbundene Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung betreffen eine einstweilige Verfügung, die das Landgericht Berlin in einer äußerungsrechtlichen Angelegenheit erlassen hat, ohne die Beschwerdeführerin anzuhören.
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1. Das zugrundeliegende Verfahren betrifft die Geltendmachung von Unterlassungsansprüchen. Hintergrund des Verfahrens sind die Verhandlungen der Nachkommen des letzten deutschen Kaisers mit Bund und Ländern über das Bestehen von Entschädigungs- und Rückgabeansprüchen. Die Beschwerdeführerin, der Landesverband B. der Partei D., vertritt in diesem Zusammenhang die Ansicht, dass die Landesregierung des Landes B. den Mitgliedern des sogenannten H. kein Entgegenkommen zeigen solle.
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Die Beschwerdeführerin startete im Sommer 2019 eine Volksinitiative unter dem Titel "…" und sammelt seit dem X.XX.XXXX Unterschriften. Auf den Unterschriftenlisten heißt es unter anderem:
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"Außerdem beansprucht das H. ein dauerhaftes, unentgeltliches und grundbuchrechtlich zu sicherndes Wohnungsrecht für Familienmitglieder im weltbekannten P. Alternativ wären sie, wie sie verlautbaren lassen haben, auch mit einem Wohnrecht im S. oder in der V., beides am Rande des P., zufrieden."
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2. Mit Schriftsatz vom 18. Dezember 2020, also rund 16 Monate nach Beginn und sechs Wochen vor Ende der Unterschriftensammlung, ließ der Antragsteller die Beschwerdeführerin abmahnen und verlangte bis zum 22. Dezember 2020 die Abgabe einer Unterlassungserklärung betreffend die zuvor genannte Äußerung zum Wohnrecht. In dem zweiseitigen Schreiben heißt es auszugsweise:
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"Unserem Mandanten ist bedauerlicherweise erst jüngst zur Kenntnis gelangt, dass durch den Landesverband B. der Partei D. eine Unterschriftsliste Verbreitung findet, in welche sich im Rahmen der noch laufenden Volksinitiative '…' Bürgerinnen und Bürger mit ihren persönlichen Daten eintragen können."
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Die Beschwerdeführerin gab keine Unterlassungserklärung ab. Sie hinterlegte mit Schriftsatz vom 21. Dezember 2020 eine Schutzschrift.
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3. Mit siebenseitigem Schriftsatz vom 14. Januar 2021 beantragte der Antragsteller beim Landgericht Berlin den Erlass einer einstweiligen Verfügung, es der Beschwerdeführerin zu untersagen, die oben genannte Äußerung wörtlich oder sinngemäß zu verbreiten und/oder verbreiten zu lassen. Es entspreche nicht der Wahrheit, dass der Antragsteller für seine Familie ein derartiges Wohnrecht beanspruche. Zwar sei mit Vertretern B. über ein Wohnrecht gesprochen worden, aber dies sei nur ein Verhandlungsvorschlag gewesen. Die Frage sei mittlerweile "vom Tisch" und ein Anspruch auf ein Wohnrecht werde nicht mehr erhoben.
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4. Mit Beschluss vom 26. Januar 2021 erließ das Landgericht Berlin wegen Dringlichkeit ohne mündliche Verhandlung antragsgemäß die einstweilige Verfügung. Das Landgericht nahm Bezug auf die Antragsschrift und führte ergänzend aus, es handele sich bei der angegriffenen Äußerung um eine unwahre Tatsachenbehauptung. Der unbefangene Leser entnehme dem Text der Unterschriftenliste, dass das H. aktuell die Forderung nach einem Wohnrecht geltend mache. Eine Anhörung der Beschwerdeführerin war nicht erfolgt.
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5. Die Beschwerdeführerin legte mit Schriftsatz vom 2. Februar 2021 Widerspruch ein und beantragte, die Zwangsvollstreckung einstweilen einzustellen.
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6. Mit bei Gericht am 4. Februar 2021 eingegangenem Schriftsatz erhob die Beschwerdeführerin Verfassungsbeschwerde und beantragte den Erlass einer einstweiligen Verfügung, damit sie am Montag, dem 8. Februar 2021, fristgerecht nach § 6 Abs. 1, Abs. 1a des Gesetzes über das Verfahren bei Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid des Landes B. die gesammelten Unterschriften auf den seit August 2019 verwendeten Unterschriftsbögen ohne Verstoß gegen die gerichtliche Entscheidung vorlegen könne. Sie rügt die Verletzung ihrer prozessualen Waffengleichheit durch das Landgericht Berlin.
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II.
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Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zulässig und begründet.
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1. Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Dabei gelten, selbst wenn eine Verfassungsbeschwerde in der Sache Aussicht auf Erfolg hat, für den Erlass einer einstweiligen Anordnung durch das Bundesverfassungsgericht im Rahmen der insoweit grundsätzlich maßgeblichen Folgenabwägung strenge Maßstäbe (vgl. BVerfGE 71, 158 161>; 88, 185 186>; 91, 252 257 f.>; 111, 147 152 f.>; stRspr).
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Die Anforderungen, die sich aus der prozessualen Waffengleichheit in äußerungsrechtlichen einstweiligen Verfügungsverfahren ergeben, sind eingehend verfassungsgerichtlich klargestellt (vgl. die Beschlüsse der 3. Kammer des Ersten Senats vom 30. September 2018 - 1 BvR 1783/17 - und - 1 BvR 2421/17 -; sowie die Beschlüsse der 2. Kammer des Ersten Senats vom 3. Juni 2020 - 1 BvR 1246/20 -; vom 17. Juni 2020 - 1 BvR 1380/20 -; vom 22. Dezember 2020 - 1 BvR 2740/20 - und vom 11. Januar 2021 - 1 BvR 2681/20 -).
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Angesichts dessen führt die vom Bundesverfassungsgericht im Rahmen der Entscheidung nach § 32 Abs. 1 BVerfGG vorzunehmende Folgenabwägung (vgl. BVerfGE 71, 158 161>; 88, 185 186>; 91, 252 257 f.>; stRspr) im vorliegenden Fall zu dem Ergebnis, dass die für den Erlass einer einstweiligen Anordnung sprechenden Gründe überwiegen. Denn die Verfassungsbeschwerde ist hinsichtlich der gerügten Verletzung der prozessualen Waffengleichheit im einstweiligen Verfügungsverfahren offensichtlich zulässig und begründet.
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2. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig (vgl. näher BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 30. September 2018 - 1 BvR 1783/17 -, Rn. 10; Beschlüsse der 2. Kammer des Ersten Senats vom 3. Juni 2020 - 1 BvR 1246/20 -, Rn. 12; vom 17. Juni 2020 - 1 BvR 1380/20 -, Rn. 12; vom 22. Dezember 2020 - 1 BvR 2740/20 -, Rn. 16, und vom 11. Januar 2021 - 1 BvR 2681/20 -, Rn. 24 ff.).
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a) Die Beschwerdeführerin hat die Verfassungsbeschwerde innerhalb der Monatsfrist des § 93 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG erhoben.
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b) Auch der Rechtsweg ist, unabhängig von dem noch fortdauernden Ausgangsverfahren, erschöpft (§ 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG). Die Beschwerdeführerin macht eine Rechtsverletzung unmittelbar durch die Handhabung des Prozessrechts im Verfahren über den Erlass einer einstweiligen Verfügung geltend. Sie wendet sich dabei gegen ein bewusstes Übergehen ihrer prozessualen Rechte. Eine Missachtung von Verfahrensrechten als solche kann insbesondere mit dem Antrag auf einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung (§ 924 Abs. 3 i.V.m. § 707 ZPO) nicht geltend gemacht werden, denn im Rahmen dessen sind die Erfolgsaussichten in der Sache maßgeblich (vgl. BVerfG, Beschlüsse der 2. Kammer des Ersten Senats vom 3. Juni 2020 - 1 BvR 1246/20 -, Rn. 12 und vom 17. Juni 2020 - 1 BvR 1380/20 -, Rn. 12). Auch darüber hinaus gibt es keinen Rechtsbehelf, mit dem die Verletzung der prozessualen Waffengleichheit als solche vor den Fachgerichten geltend gemacht werden könnte. Die Verfassungsbeschwerde kann daher ausnahmsweise unmittelbar gegen die einstweilige Verfügung erhoben werden (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 30. September 2018 - 1 BvR 1783/17 -, Rn. 10; Beschlüsse der 2. Kammer des Ersten Senats vom 3. Juni 2020 - 1 BvR 1246/20 -, Rn. 12; vom 17. Juni 2020 - 1 BvR 1380/20 -, Rn. 12; vom 22. Dezember 2020 - 1 BvR 2740/20 -, Rn. 16, und vom 11. Januar 2021 - 1 BvR 2681/20 -, Rn. 25).
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c) Ein besonders gewichtiges Feststellungsinteresse musste die Beschwerdeführerin nicht geltend machen. Die Darlegung eines solchen kann ausnahmsweise entbehrlich sein, solange eine offenkundig prozessrechtswidrig erlassene einstweilige Verfügung noch fortwirkt, das darauf bezogene fachgerichtliche Widerspruchsverfahren zügig beschritten wurde und noch andauert sowie schwere, grundrechtlich erhebliche Nachteile des Beschwerdeführers im Sinne von § 32 Abs. 1, § 90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG geltend gemacht werden, die ein Einschreiten des Bundesverfassungsgerichts noch während des laufenden fachgerichtlichen Verfahrens gebieten (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 23. September 2020 - 1 BvR 1617/20 -, Rn. 7). Sofern das Äußerungsrecht (Art. 5 Abs. 1 GG) und das Recht der Beschwerdeführerin, an der Willensbildung des Volkes mitzuwirken (Art. 5 Abs. 1 i.V.m. Art. 21 Abs. 1 GG), im zugrundeliegenden Verfahren betroffen ist, wird aufgrund der besonderen Bedeutung dieser Grundrechte (vgl. nur BVerfGE 7, 198 208>; 62, 230 247>; 76, 196 208 f.>) in der Regel davon auszugehen sein, dass der durch die einstweilige Verfügung belasteten Partei ohne das Einschreiten des Bundesverfassungsgerichts ein besonders schwerer Nachteil droht (vgl. BVerfG, Beschlüsse der 2. Kammer des Ersten Senats vom 3. Juni 2020 - 1 BvR 1246/20 -, Rn. 12 f.; vom 17. Juni 2020 - 1 BvR 1380/20 -, Rn. 9 ff.; vom 22. Dezember 2020 - 1 BvR 2740/20 -, Rn. 16, und vom 11. Januar 2021 - 1 BvR 2681/20 -, Rn. 26; zu anderen Konstellationen BVerfG, Beschlüsse der 2. Kammer des Ersten Senats vom 16. Juli 2020 - 1 BvR 1617/20 -, Rn. 5, und vom 27. Juli 2020 - 1 BvR 1379/20 -, Rn. 8 ff.). So verhält es sich im vorliegenden Fall. Die Beschwerdeführerin als die Volksinitiative unterstützender Landesverband einer Partei ist nach wie vor durch den Unterlassungstitel belastet. Über den von ihr eingelegten Widerspruch ist noch nicht entschieden.
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3. Der Erlass der einstweiligen Verfügung durch das Landgericht verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem grundrechtsgleichen Recht auf prozessuale Waffengleichheit aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG.
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a) Die hier maßgeblichen Rechtsfragen hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden (vgl. die Beschlüsse der 3. Kammer des Ersten Senats vom 30. September 2018 - 1 BvR 1783/17 -, Rn. 14 ff. und - 1 BvR 2421/17 -, Rn. 25 ff.; sowie die Beschlüsse der 2. Kammer des Ersten Senats vom 3. Juni 2020 - 1 BvR 1246/20 -, Rn. 15 ff.; vom 17. Juni 2020 - 1 BvR 1380/20 -, Rn. 14; vom 22. Dezember 2020 - 1 BvR 2740/20 -, Rn. 18 ff., und vom 11. Januar 2021 - 1 BvR 2681/20 -, Rn. 28 ff.).
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aa) Der Grundsatz der prozessualen Waffengleichheit ist Ausprägung der Rechtsstaatlichkeit und des allgemeinen Gleichheitssatzes im Zivilprozess und sichert verfassungsrechtlich die Gleichwertigkeit der prozessualen Stellung der Parteien vor Gericht. Das Gericht muss den Prozessparteien im Rahmen der Verfahrensordnung gleichermaßen die Möglichkeit einräumen, alles für die gerichtliche Entscheidung Erhebliche vorzutragen und alle zur Abwehr des gegnerischen Angriffs erforderlichen prozessualen Verteidigungsmittel selbständig geltend zu machen. Die prozessuale Waffengleichheit steht dabei im Zusammenhang mit dem Gehörsgrundsatz aus Art. 103 Abs. 1 GG, der eine besondere Ausprägung der Waffengleichheit ist. Als prozessuales Urrecht (vgl. BVerfGE 70, 180 188>) gebietet dieser, in einem gerichtlichen Verfahren der Gegenseite grundsätzlich vor einer Entscheidung Gehör und damit die Gelegenheit zu gewähren, auf eine bevorstehende gerichtliche Entscheidung Einfluss zu nehmen (vgl. BVerfGE 9, 89 96 f.>; 57, 346 359>). Entbehrlich ist eine vorherige Anhörung nur in Ausnahmefällen. Voraussetzung der Verweisung auf eine nachträgliche Anhörung ist, dass ansonsten der Zweck des einstweiligen Verfügungsverfahrens vereitelt würde (vgl. näher BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 30. September 2018 - 1 BvR 1783/17 -, Rn. 14 bis 16). Im Presse- und Äußerungsrecht kann jedenfalls nicht als Regel von einer Erforderlichkeit der Überraschung des Gegners bei der Geltendmachung von Ansprüchen ausgegangen werden (vgl. auch BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 30. September 2018 - 1 BvR 2421/17 -, Rn. 31).
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bb) Von der Frage der Anhörung und Einbeziehung der Gegenseite zu unterscheiden ist die Frage, in welchen Fällen über den Erlass einer einstweiligen Verfügung ohne mündliche Verhandlung entschieden werden kann. Für die Beurteilung, wann ein dringender Fall im Sinne des § 937 Abs. 2 ZPO vorliegt und damit auf eine mündliche Verhandlung verzichtet werden kann, haben die Fachgerichte einen weiten Wertungsrahmen. Die Annahme einer Dringlichkeit setzt freilich sowohl seitens des Antragstellers als auch seitens des Gerichts eine entsprechend zügige Verfahrensführung voraus (vgl. näher BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 30. September 2018 - 1 BvR 1783/17 -, Rn. 19 f.).
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cc) Gleichwohl wird in äußerungsrechtlichen Angelegenheiten angesichts der Eilbedürftigkeit nicht selten zunächst ohne mündliche Verhandlung entschieden werden müssen. Der Verzicht auf eine mündliche Verhandlung berechtigt ein Gericht jedoch nicht dazu, die Gegenseite bis zur Entscheidung über den Verfügungsantrag aus dem Verfahren herauszuhalten (vgl. näher BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 30. September 2018 - 1 BvR 1783/17 -, Rn. 21 bis 24; sowie Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 22. Dezember 2020 - 1 BvR 2740/20 -, Rn. 21). Eine stattgebende Entscheidung über den Verfügungsantrag kommt grundsätzlich nur in Betracht, wenn die Gegenseite die Möglichkeit hatte, auf das mit dem Antrag und weiteren an das Gericht gerichteten Schriftsätzen geltend gemachte Vorbringen zu erwidern.
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Dabei ist es verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, wenn das Gericht in solchen Eilverfahren auch die Möglichkeiten einbezieht, die es der Gegenseite vorprozessual erlauben, sich zu dem Verfügungsantrag zu äußern, wenn sichergestellt ist, dass solche Äußerungen vollständig dem Gericht vorliegen. Demgegenüber ist dem Antragsgegner Gehör zu gewähren, wenn er nicht in der gehörigen Form abgemahnt wurde oder der bei Gericht eingereichte Antrag auf eine Erwiderung des Antragsgegners inhaltlich eingeht und repliziert (vgl. näher BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 30. September 2018 - 1 BvR 1783/17 -, Rn. 22 ff.; sowie Beschlüsse der 2. Kammer des Ersten Senats vom 3. Juni 2020 - 1 BvR 1246/20 -, Rn. 18 f.; vom 17. Juni 2020 - 1 BvR 1380/20 -, Rn. 14, und vom 22. Dezember 2020 - 1 BvR 2740/20 -, Rn. 22) oder sonst mit ergänzendem Vortrag begründet wird.
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b) Nach diesen Maßstäben verletzt der angegriffene Beschluss die Beschwerdeführerin offenkundig in ihrem grundrechtsgleichen Recht auf prozessuale Waffengleichheit aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG.
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Durch Erlass der einstweiligen Verfügung ohne jegliche Einbeziehung der Beschwerdeführerin war vorliegend keine Gleichwertigkeit ihrer prozessualen Stellung gegenüber der Verfahrensgegnerin gewährleistet. Dass die zweiseitige Abmahnung des Antragstellers gegenüber der Beschwerdeführerin nicht kongruent mit der siebenseitigen Antragsschrift gegenüber dem Gericht war, liegt auf der Hand. Zwar hatte die Beschwerdeführerin eine Schutzschrift hinterlegt. Inhaltlich konnte sie sich dabei nur an der sehr knapp gefassten Abmahnung des Antragstellers orientieren. Eine Stellungnahme zu den weitergehenden Ausführungen des Antragstellers, die dieser erst in der Antragsschrift gemacht hat, war der Beschwerdeführerin nicht möglich. Der Verzicht der Beschwerdeführerin auf eine Stellungnahme zur Abmahnung kann auch nicht als Verzicht auf eine prozessual gebotene Anhörung durch das Gericht missverstanden werden, zumal die Beschwerdeführerin in ihrer Schutzschrift ausdrücklich um die Gewährung rechtlichen Gehörs ersuchte. Hinzu kommt, dass der Antragsteller seinen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung mehr als drei Wochen nach Ablauf der der Beschwerdeführerin gesetzten Frist zur Abgabe einer Unterlassungsverpflichtungserklärung einreichte und auch das Landgericht 12 Tage zwischen Eingang des Antrags und Bescheidung desselben benötigte.
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Dass die Gewährung rechtlichen Gehörs zentrale Bedeutung für ein rechtsstaatliches und faires gerichtliches Verfahren besitzt, hat die Kammer dem Landgericht Berlin in nunmehr drei jüngeren Entscheidungen mitgeteilt (BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 3. Juni 2020 - 1 BvR 1246/20 - mit Verweis auf den Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 30. September 2018 - 1 BvR 1783/17 -; vom 17. Juni 2020 - 1 BvR 1380/20 - und vom 22. Dezember 2020 - 1 BvR 2740/20 -). Auch vorliegend wäre die Einbeziehung der Beschwerdeführerin durch das Gericht vor Erlass der Verfügung offensichtlich geboten gewesen. Es bestand hinreichend Zeit hierfür. Unzulässig ist es jedoch, wegen einer gegebenenfalls durch die Anhörung des Antragsgegners befürchteten Verzögerung oder wegen einer durch die Stellungnahme erforderlichen, arbeitsintensiven Auseinandersetzung mit dem Vortrag des Antragsgegners bereits in einem frühen Verfahrensstadium gänzlich von einer Einbeziehung der Gegenseite abzusehen und sie stattdessen bis zum Zeitpunkt der auf Widerspruch hin anberaumten mündlichen Verhandlung mit einem einseitig erstrittenen gerichtlichen Unterlassungstitel zu belasten.
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4. Angesichts des Verstoßes gegen die prozessuale Waffengleichheit kommt es auf eine Prüfung der Verletzung weiterer Grundrechte nicht an.
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5. Die Außervollzugsetzung der verfahrenswidrig zustande gekommenen Entscheidung gibt dem Landgericht Berlin Gelegenheit, bei einer neuerlichen Entscheidung beide Seiten einzubeziehen und deren Vortrag zu berücksichtigen.
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6. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 3 BVerfGG.
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Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
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