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BFH 30.01.2020 - IX B 73/19
BFH 30.01.2020 - IX B 73/19 - Grundordnung des Verfahrens - Bindungswirkung des Feststellungsbescheids - Rechtsfehler
Normen
§ 115 Abs 2 Nr 3 FGO, § 295 ZPO, § 116 Abs 6 FGO
Vorinstanz
vorgehend FG München, 28. Juni 2019, Az: 1 K 342/19, Urteil
Leitsatz
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1. NV: Beeinflusst der Ausgang eines rechtskräftig abgeschlossenen, vorgreiflichen Feststellungsverfahrens (mutmaßlich) mit Bindungswirkung das nachfolgende Verfahren, gehört die fehlerfreie Feststellung der Bindungswirkung zu den die Grundordnung des Verfahrens betreffenden Fragen.
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2. NV: Ein Verfahrensmangel liegt insofern nicht nur vor, wenn der BFH einen Verstoß gegen die Grundordnung des Verfahrens positiv festgestellt hat, sondern schon dann, wenn das FG die Einhaltung der Grundordnung rechtsfehlerhaft bejaht hat, so dass der BFH einen Verstoß gegen die Grundordnung nicht ausschließen kann.
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3. NV: Hat das FG einen Verstoß gegen die Grundordnung des Verfahrens verfahrensfehlerhaft bejaht, kommt ein Rügeverzicht in Bezug auf den Verfahrensfehler nicht in Betracht.
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4. NV: Auch Fehler des FG, die revisionsrechtlich dem materiellen Recht zuzurechnen sind, sind im Rahmen der Revisionszulassung ausnahmsweise zu beachten, wenn sie bei der Anwendung einer die Grundordnung des Verfahrens betreffenden Vorschrift vorgekommen sind und der BFH deshalb einen Verstoß gegen die Grundordnung des Verfahrens nicht sicher ausschließen kann.
Tenor
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Auf die Beschwerde des Klägers wegen Nichtzulassung der Revision wird das Urteil des Finanzgerichts München vom 28.06.2019 - 1 K 342/19 aufgehoben.
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Die Sache wird an das Finanzgericht München zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.
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Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens übertragen.
Gründe
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Die Beschwerde ist begründet. Der geltend gemachte Verfahrensmangel nicht ausreichender Beteiligung im Feststellungsverfahren greift durch. Das Finanzgericht (FG) hat ohne hinreichende tatsächliche Grundlage die Bindungswirkung des Grundlagenbescheids für den Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) bejaht. Die Beschwerde führt zur Aufhebung des Urteils und zur Zurückverweisung an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 116 Abs. 6 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).
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1. Lehnt das FG eine eigene Sachprüfung mit der Begründung ab, über die Sachfrage sei mit Wirkung für und gegen den Kläger bereits abschließend im Verfahren gegen den Grundlagenbescheid entschieden, muss es sich von Amts wegen die Überzeugung bilden, dass die Bindungswirkung (auch gegenüber dem Kläger) besteht und wie weit sie (inhaltlich) reicht. Dies gehört zur Grundordnung des Verfahrens, deren Einhaltung der Bundesfinanzhof (BFH) auch ohne ausdrückliche Rüge zu beachten hat (BFH-Urteil vom 11.12.2018 - VIII R 7/15, BFHE 263, 216, BStBl II 2019, 231) und auf deren Einhaltung die Beteiligten nicht wirksam verzichten können.
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a) In der Rechtsprechung des BFH ist ein Verstoß gegen die Grundordnung des Verfahrens vor allem anerkannt für die Nichtbeachtung der Vorschriften über die notwendige Beiladung (§ 60 Abs. 3 FGO) und die Aussetzung des Verfahrens (§ 74 FGO) insbesondere wegen Vorgreiflichkeit des Feststellungsverfahrens. Ist ein Feststellungsverfahren bereits durchgeführt, aber noch nicht bestandskräftig oder rechtskräftig beendet worden, geht es bei der Aussetzung des Verfahrens auch um die Beachtung der Bindungswirkung des Feststellungsbescheids im Folgeverfahren (BFH-Urteil vom 20.07.2018 - IX R 28/17, BFH/NV 2019, 110). Ist das vorgreifliche Verfahren beendet und beeinflusst sein Ergebnis (mutmaßlich) mit Bindungswirkung das nachfolgende Verfahren, gehört die fehlerfreie Feststellung der Bindungswirkung ebenfalls zu den die Grundordnung des Verfahrens betreffenden Fragen. Wird die Bindungswirkung (zu Unrecht) bejaht und deshalb eine Sachentscheidung im Folgeverfahren (möglicherweise zu Unrecht) verweigert, besteht die ernsthafte Gefahr der Verletzung elementarer Verfahrensgarantien. Wegen der verfahrensrechtlichen Aufspaltung des an sich einheitlichen Falles in zwei selbständige Verfahren muss sichergestellt sein, dass der Kläger einmal vor Gericht gehört wird (Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes --GG--) und (insgesamt) ein faires Verfahren erhält (Art. 19 Abs. 4 GG).
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b) Ein Verfahrensmangel liegt insofern nicht nur vor, wenn das FG die Bindungswirkung zu Unrecht angenommen hat, weil sie nach Aktenlage eindeutig zu verneinen ist. Es genügt für die Anwendung von § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO vielmehr, wenn die tatsächlichen Schlussfolgerungen des FG zum Bestehen und zur Reichweite der Bindungswirkung rechtsfehlerhaft sind, z.B. weil für sie hinreichende tatsächliche Feststellungen fehlen. Die Grundordnung des Verfahrens muss eingehalten werden. Das ist nicht gewährleistet, wenn das FG die Voraussetzungen dafür rechtsfehlerhaft bejaht hat. Der BFH muss einen (nach dem Vortrag des Klägers möglichen) Verstoß gegen die Grundordnung des Verfahrens nicht feststellen, sondern ausschließen. Dem entsprechend genügt es auch, wenn das FG mit rechtsfehlerhafter Begründung die Voraussetzungen für eine notwendige Beiladung verneint hat (BFH-Urteil vom 05.06.2019 - IV R 17/16, BFH/NV 2019, 1123). Steht ein Verstoß gegen die Grundordnung des Verfahrens in Rede, muss der Verfahrensmangel nicht im engeren Sinne "vorliegen". Mit diesem Verständnis wendet der BFH § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO über seinen Wortlaut hinaus an und erweitert so den Rechtsschutz. Damit korrespondiert, dass bei einer Verletzung der Grundordnung des Verfahrens die Beruhensprüfung ebenfalls entbehrlich ist (BFH-Urteil vom 06.07.1999 - VIII R 12/98, BFHE 189, 148, BStBl II 1999, 731).
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c) Hat das FG die Einhaltung der Grundordnung des Verfahrens rechtsfehlerhaft bejaht, ist ein dabei vorgekommener Verfahrensmangel auch dann beachtlich, wenn er nicht gerügt worden ist. Das gilt auch für eine Verletzung der Sachaufklärungspflicht. Sie gehört zwar grundsätzlich zu den verzichtbaren Mängeln, die nicht mehr geltend gemacht werden können, wenn sie nicht in der letzten mündlichen Verhandlung gerügt worden sind (§ 295 Abs. 1 der Zivilprozessordnung --ZPO--). Wird jedoch die Sachaufklärungspflicht verletzt bei der Beantwortung einer zur Grundordnung des Verfahrens gehörenden Frage, gehört sie ebenfalls zu den unverzichtbaren Mängeln, bei denen ein Rügeverzicht unbeachtlich ist (§ 295 Abs. 2 ZPO).
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d) Hat das FG die Einhaltung der Grundordnung des Verfahrens rechtsfehlerhaft bejaht, kommt es im Revisionszulassungsverfahren nicht darauf an, ob der Rechtsfehler des FG einen Verfahrensmangel begründet (vgl. BFH-Urteil in BFH/NV 2019, 1123). Auch Fehler, die revisionsrechtlich dem materiellen Recht zuzurechnen sind, sind im Rahmen der Revisionszulassung ausnahmsweise zu beachten, wenn sie bei der Anwendung einer die Grundordnung des Verfahrens betreffenden Vorschrift vorgekommen sind und wenn der BFH deshalb einen Verstoß gegen die Grundordnung des Verfahrens nicht sicher ausschließen kann. Das gilt auch für Schlussfolgerungen des FG auf tatsächlichem Gebiet, soweit der Rechtsfehler darin besteht, dass für den vom FG gezogenen Schluss eine hinreichende Tatsachengrundlage fehlt. Solche Fehler des FG führen zwar grundsätzlich nicht zur Zulassung der Revision, weil sie revisionsrechtlich dem materiellen Recht zugerechnet werden und weil einfache Rechtsfehler die Zulassung der Revision grundsätzlich nicht begründen können. Im Zusammenhang mit einer die Grundordnung des Verfahrens betreffenden Frage gilt diese Einschränkung jedoch nicht.
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e) Liegen derartige Rechtsfehler vor, führen nicht sie zur Zulassung der Revision, sondern der durch sie verdeckte (mögliche) Verfahrensmangel einer Verletzung der Grundordnung des Verfahrens. Eröffnet ist deshalb auch der Anwendungsbereich des § 116 Abs. 6 FGO.
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f) Der BFH muss einen Verfahrensmangel zwar grundsätzlich feststellen und dazu auch eigene tatsächliche Ermittlungen anstellen. Eine vom FG unterlassene Sachaufklärung muss er jedoch nicht nachholen, um einen Verstoß gegen die Grundordnung des Verfahrens positiv festzustellen. Dies obliegt --wie nach einer Zurückverweisung im Revisionsverfahren-- dem FG.
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2. Nach diesen Maßstäben kann die angefochtene Entscheidung keinen Bestand haben.
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a) Das FG hat zum einen angenommen, der Kläger sei zum Einspruchsverfahren gegen den geänderten Feststellungsbescheid hinzugezogen worden. Es hat dies aus dem Akteninhalt geschlossen und der gegenteiligen Darstellung des Klägers nicht geglaubt. Das Wohnsitzfinanzamt hatte das Betriebsfinanzamt schriftlich gebeten, den Kläger zum Einspruchsverfahren gegen den geänderten Feststellungsbescheid hinzuzuziehen. Das Betriebsfinanzamt hatte dem Wohnsitzfinanzamt mitgeteilt, der Kläger sei hinzugezogen worden und das Hinzuziehungsschreiben abschriftlich beigefügt. Der Schluss des FG findet in seinen Feststellungen keine hinreichende Stütze; das FG hat außerdem den Sachverhalt nicht ausreichend aufgeklärt. Es bedarf keiner Entscheidung, ob die Feststellungen des FG ausreichen, um auf die wirksame Hinzuziehung des Klägers in einem fremden Einspruchsverfahren zu schließen. Dagegen könnte sprechen, dass der Kläger nach dem Wortlaut des Hinzuziehungsschreibens zu den Einsprüchen "einiger Genossen" hinzugezogen werden sollte. Daraus ergab sich nicht, zu welchem oder zu welchen Einspruchsverfahren der Kläger hinzugezogen worden ist. Ohne nähere Bezeichnung des Verfahrens/der Verfahren war dem Kläger eine aktive Beteiligung an diesem/an diesen Verfahren jedoch nicht möglich. Das Hinzuziehungsschreiben enthält auch keine Angaben zum Sach- und Streitstand des Einspruchsverfahrens. Dessen ungeachtet fehlen Feststellungen des FG, dass dem Kläger das Hinzuziehungsschreiben auch zugegangen ist. Außerdem hat das FG keine Feststellung getroffen, dass dem Kläger die Einspruchsentscheidung bekanntgegeben worden ist. Die Bindungswirkung kann sich aber nur aus dem Grundlagenbescheid ergeben. Dazu hätten sich dem FG auch weitere Ermittlungen aufdrängen müssen, denn der Kläger hat im Klageverfahren bestritten, dass ihm die Einspruchsentscheidung bekanntgegeben worden sei.
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b) Das FG hat zum anderen angenommen, der Kläger sei zum (anschließenden) Klageverfahren gegen den geänderten Feststellungsbescheid (FG Baden-Württemberg, Az.: 7 K 3871/08) beigeladen worden. Dies hat es aus dem Tatbestand des Urteils geschlossen, wonach das FG Baden-Württemberg alle Feststellungsbeteiligten, die nicht selbst Klage erhoben haben, zum Verfahren beigeladen hat. Auch diese Schlussfolgerung des FG hat keine hinreichende tatsächliche Grundlage. Die dem FG vorliegende Kopie des Urteils ist im Rubrum vollständig neutralisiert und enthält in der Liste der Beigeladenen nur Nummern. Daraus konnte das FG nicht schließen, dass der Kläger zu dem gerichtlichen Verfahren beigeladen worden ist, was dieser bestreitet. Vielmehr lässt der Akteninhalt keinen Schluss auf die Beiladung des Klägers zu. Die vorliegende (neutralisierte) Urteilskopie ist --wie dargelegt-- unergiebig. Auch aus dem Tatbestand des Urteils ergibt sich nicht, dass gerade der Kläger beigeladen worden ist. Hinzu kommt, dass mit der Bindungswirkung des Urteils nicht argumentiert werden kann, wenn die wirksame Beiladung streitig ist, denn die Bindungswirkung des Urteils gegenüber dem Kläger hängt dann gerade von dessen wirksamer Beiladung ab und nicht umgekehrt.
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3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 143 Abs. 2 FGO.
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