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BFH 07.07.2016 - III R 46/14
BFH 07.07.2016 - III R 46/14 - Kindergeld: Anspruchsberechtigung bei grenzüberschreitenden Sachverhalten
Normen
§ 62 Abs 1 Nr 1 EStG 2009, § 62 Abs 2 EStG 2009, § 63 Abs 1 EStG 2009, § 64 Abs 2 S 1 EStG 2009, Art 1 Buchst z EGV 883/2004, Art 2 Abs 1 EGV 883/2004, Art 3 Abs 1 Buchst j EGV 883/2004, Art 11 Abs 1 EGV 883/2004, Abs 3 Buchst a EGV 883/2004, Art 67 EGV 883/2004, Art 60 Abs 1 EGV 987/2009, EStG VZ 2009, EStG VZ 2010
Vorinstanz
vorgehend Finanzgericht Berlin-Brandenburg, 13. November 2014, Az: 10 K 10241/11, Urteil
Leitsatz
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1. NV: Die Fiktion des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 kann dazu führen, dass der Anspruch auf Kindergeld nach §§ 62 ff. EStG nicht dem in Deutschland, sondern vorrangig dem im EU-Ausland lebenden Elternteil zusteht (Anschluss an die Senatsurteile vom 4. Februar 2016 III R 17/13, BFHE 253, 134, BStBl II 2016, 612, und vom 28. April 2016 III R 68/13, BFHE 254, 20, BStBl II 2016, 776) .
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2. NV: Für eine (vorrangige) Anspruchsberechtigung eines nicht freizügigkeitsberechtigten Elternteils müssen die Voraussetzungen i.S. des § 62 Abs. 2 EStG erfüllt sein (Anschluss an Senatsurteil vom 7. Juli 2016 III R 11/13) .
Tenor
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Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Finanzgerichts Berlin-Brandenburg vom 13. November 2014 10 K 10241/11 aufgehoben.
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Die Sache wird an das Finanzgericht Berlin-Brandenburg zurückverwiesen.
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Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens übertragen.
Tatbestand
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I. Der in der Bundesrepublik Deutschland (Deutschland) wohnende Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) ist der Vater des im Dezember 1991 geborenen Sohnes F. Der Kläger ist deutscher Staatsangehöriger und war im streitigen Zeitraum (Mai 2010 bis August 2011) nichtselbständig beschäftigt. F, der bei seiner Mutter in England aufgewachsen ist, besuchte bis Juli 2010 ein College und studierte ab September 2010 an einer Universität in England. Einkünfte und Bezüge hatte F im Streitzeitraum nicht.
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Die Kindsmutter lebte in England und war dort selbständig tätig. In England bezog sie Familienleistungen für F bis einschließlich September 2010.
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Im März 2011 beantragte der Kläger erstmals Kindergeld für seinen Sohn F. Die Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) lehnte den Antrag mit Bescheid vom 11. Juli 2011 für die Zeit ab Mai 2010 ab, da die in England lebende Kindsmutter den Sohn F in ihren Haushalt aufgenommen habe und somit vorrangig zum Bezug von Kindergeld berechtigt sei. Der dagegen gerichtete Einspruch hatte keinen Erfolg (Einspruchsentscheidung vom 3. August 2011).
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Mit der hiergegen gerichteten Klage begehrte der Kläger inländisches Kindergeld für F ab Mai 2010. Das Finanzgericht (FG) gab der Klage mit Urteil vom 13. November 2014 10 K 10241/11 zum Teil statt. Es war der Ansicht, dem Kläger stehe für seinen in England lebenden Sohn F für den Streitzeitraum Oktober 2010 bis August 2011 inländisches Kindergeld in voller Höhe und für den Streitzeitraum Mai 2010 bis September 2010 inländisches Differenzkindergeld zu. Im Übrigen wies es die Klage ab.
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Mit der vom FG zugelassenen Revision rügt die Familienkasse die sich aus einer unzutreffenden Auslegung des § 64 des Einkommensteuergesetzes (EStG) ergebende Verletzung materiellen Rechts. Bei der Beurteilung des vorliegenden Sachverhalts sei nach Art. 67 Satz 1 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (Amtsblatt der Europäischen Union --ABlEU-- 2004 Nr. L 166, S. 1) in der für den Streitzeitraum maßgeblichen Fassung --VO Nr. 883/2004 (Grundverordnung)-- i.V.m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABlEU 2009 Nr. L 284, S. 1) in der für den Streitzeitraum maßgeblichen Fassung --VO Nr. 987/2009 (Durchführungsverordnung)-- zu unterstellen, dass die Kindsmutter mit dem Kind in Deutschland lebe. Die Kindsmutter sei somit gemäß § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG vorrangig kindergeldberechtigt.
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Die Familienkasse beantragt sinngemäß,
das Urteil des FG Berlin-Brandenburg vom 13. November 2014 10 K 10241/11 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
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Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
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II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Streitsache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).
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Das FG hat seinem Urteil zu Unrecht die Rechtsauffassung zugrunde gelegt, eine vorrangige Anspruchsberechtigung der Kindsmutter komme mangels Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthalts in Deutschland nicht in Betracht. Es ist zwar zutreffend davon ausgegangen, dass der Kläger nach nationalem Recht (§ 62 EStG) anspruchsberechtigt ist (dazu 1.). Die Kindsmutter könnte aber nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG vorrangig anspruchsberechtigt sein, da nach Art. 67 Satz 1 der VO Nr. 883/2004 i.V.m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 die Wohnsituation der Kindsmutter (fiktiv) in das Inland übertragen wird (dazu 2. bis 4.). Die Sache ist jedoch nicht spruchreif, da der Senat nicht abschließend beurteilen kann, ob auch die übrigen Voraussetzungen für einen vorrangigen Kindergeldanspruch der Kindsmutter erfüllt sind (dazu 5.).
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1. Der Kläger erfüllt die Anspruchsvoraussetzungen nach § 62 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Satz 2, § 32 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a, Buchst. b, Satz 2 EStG. Dies wurde --für den Senat bindend (vgl. § 118 Abs. 2 FGO)-- vom FG festgestellt. Unerheblich ist, dass F seinen Wohnsitz in England hat (§ 63 Abs. 1 Satz 3 EStG).
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2. Die Kindsmutter könnte allerdings nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG für den Fall, dass sie F in ihren Haushalt in England aufgenommen hat und sie eine freizügigkeitsberechtigte Ausländerin ist oder die Voraussetzungen des § 62 Abs. 2 EStG vorliegen, vorrangig anspruchsberechtigt sein. Denn gemäß Art. 67 der VO Nr. 883/2004 i.V.m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 ist zu unterstellen, dass sie in Deutschland wohnt.
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a) Nach § 64 Abs. 1 EStG wird für jedes Kind nur einem Berechtigten Kindergeld gezahlt. Bei mehreren Berechtigten wird das Kindergeld demjenigen gezahlt, der das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat (§ 64 Abs. 2 Satz 1 EStG).
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b) Die Anspruchsberechtigung der Kindsmutter könnte sich im Streitfall aus § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG ergeben. Zwar liegt der nach dieser Vorschrift erforderliche Inlandswohnsitz tatsächlich nicht vor. Es finden jedoch die Vorschriften der VO Nr. 883/2004 und der VO Nr. 987/2009 Anwendung. Dadurch wird gemäß Art. 67 der VO Nr. 883/2004 i.V.m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 ein Inlandswohnsitz der Kindsmutter fingiert.
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3. Der Anwendungsbereich der VO Nr. 883/2004 ist im Streitfall eröffnet und Deutschland ist danach der zuständige Mitgliedstaat.
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a) Der Kläger ist deutscher Staatsangehöriger und fällt damit nach Art. 2 Abs. 1 der VO Nr. 883/2004 in den persönlichen Anwendungsbereich der Grundverordnung. Ebenso ist das Kindergeld nach dem EStG eine Familienleistung i.S. des Art. 1 Buchst. z der VO Nr. 883/2004, weshalb auch deren sachlicher Anwendungsbereich nach Art. 3 Abs. 1 Buchst. j der VO Nr. 883/2004 eröffnet ist.
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b) Gemäß Art. 11 Abs. 1 der VO Nr. 883/2004 unterliegen die von der Verordnung erfassten Personen den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats. Da der Kläger im Streitzeitraum eine Beschäftigung in Deutschland ausgeübt hat, unterlag er den deutschen Rechtsvorschriften (Art. 11 Abs. 3 Buchst. a der VO Nr. 883/2004).
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4. Aus Art. 67 Satz 1 der VO Nr. 883/2004 i.V.m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 folgt, dass die Wohnsituation der Kindsmutter (fiktiv) in das Inland übertragen wird. Zur weiteren Begründung verweist der Senat zwecks Vermeidung von Wiederholungen auf die Entscheidungsgründe seines Urteils vom 28. April 2016 III R 68/13 (BFHE 254, 20, BStBl II 2016, 776, BFH/NV 2016, 1514, Rz 19 ff., m.w.N.).
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5. Die Sache ist jedoch nicht spruchreif. Auf der Grundlage der vom FG festgestellten Tatsachen kann der Senat nicht abschließend beurteilen, ob die Kindsmutter neben dem Wohnsitzerfordernis auch die übrigen Voraussetzungen für einen vorrangigen Kindergeldanspruch erfüllt. Das FG hat keine Feststellungen dazu getroffen, ob die Kindsmutter den Sohn F im Streitzeitraum in ihren Haushalt in England aufgenommen hat. Es hat auch keine Feststellungen dazu getroffen, ob die Kindsmutter eine (nicht) freizügigkeitsberechtigte Ausländerin i.S. des § 62 Abs. 2 EStG ist. Dem FG wird Gelegenheit gegeben, die erforderlichen Feststellungen nachzuholen.
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6. Für den zweiten Rechtsgang weist der Senat auf Folgendes hin:
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a) Sollte die Kindsmutter eine freizügigkeitsberechtigte Ausländerin sein, hinge ihre vorrangige Anspruchsberechtigung im Wesentlichen davon ab, ob sie den Sohn F im Streitzeitraum in ihren Haushalt in England aufgenommen hat. In diesem Fall folgte ein vorrangiger Anspruch des Klägers nicht aus § 64 Abs. 2 Satz 2 EStG; denn diese Bestimmung setzte einen gemeinsamen Haushalt zwischen dem Kläger und der Kindsmutter voraus. Nach den Feststellungen des FG unterhielten der Kläger und die Kindsmutter jedoch keinen gemeinsamen Haushalt. Ein gemeinsamer Haushalt könnte sich auch nicht aus der Fiktionswirkung des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 ergeben.
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Für einen vorrangigen Anspruch der Kindsmutter käme es auch nicht darauf an, ob diese selbst einen Antrag auf Kindergeld in Deutschland gestellt hat. Insoweit verweist der Senat auf die Entscheidungsgründe seines Urteils in BFH/NV 2016, 1514, Rz 27 f., m.w.N.
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b) Sollte die Kindsmutter hingegen eine nicht freizügigkeitsberechtigte Ausländerin sein --worauf die bei der Kindergeldakte befindliche Geburtsurkunde hindeuten könnte (vgl. Kindergeldakte Bl. 115)--, müsste sie für eine vorrangige Anspruchsberechtigung neben der Aufnahme des F in ihren Haushalt in England die Voraussetzungen i.S. des § 62 Abs. 2 EStG erfüllen. Denn Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 schafft eine gesetzliche Fiktion nur dahin, dass bei Anwendung der Koordinierungsregelungen der Grundverordnung die Situation der gesamten Familie in einer Weise berücksichtigt wird, als ob alle beteiligten Personen unter die Rechtsvorschriften des für die Gewährung der Familienleistungen zuständigen Mitgliedstaats fielen und dort wohnten (Senatsurteil in BFH/NV 2016, 1514, Rz 20). Wie auch aus dem Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union Trapkowski vom 22. Oktober 2015 C-378/14 (EU:C:2015:720, Deutsches Steuerrecht/Entscheidungsdienst 2015, 1501, Rz 39, 41) hervorgeht, kann diese Fiktion einen Anspruch auf Familienleistungen des in dem anderen EU-Mitgliedstaat lebenden Familienangehörigen aber nur dann begründen, wenn "alle anderen durch das nationale Recht vorgeschriebenen Voraussetzungen für die Gewährung erfüllt sind".
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7. Die Übertragung der Kostenentscheidung auf das FG beruht auf § 143 Abs. 2 FGO.
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