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BFH 19.01.2012 - VII B 88/11
BFH 19.01.2012 - VII B 88/11 - Verwendung der in einem amtlichen Vernehmungsprotokoll getroffenen Feststellungen
Normen
§ 115 Abs 2 Nr 2 FGO, § 76 Abs 1 FGO, § 77 Abs 2 FGO, § 35 AO, § 69 AO
Vorinstanz
vorgehend Hessisches Finanzgericht, 9. Februar 2011, Az: 8 K 3698/05, Urteil
Leitsatz
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1. NV: Das FG kann die in strafrechtlichen Ermittlungen oder in einem Strafurteil getroffenen Feststellungen im finanzgerichtlichen Verfahren verwerten, wenn die Beteiligten gegen diese Feststellungen keine substantiierten Einwendungen erheben, die nach den allgemeinen für die Beweiserhebung geltenden Grundsätzen nicht unbeachtet gelassen werden können.
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2. NV: Dies gilt auch für die Übernahme von Feststellungen, die in einem von Beamten der Steuerfahndung erstellten Protokoll über die Vernehmung eines Beteiligten getroffen worden sind.
Tatbestand
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I. Die miteinander verheirateten Kläger und Beschwerdeführer (Klägerin und Kläger) wurden vom Beklagten und Beschwerdegegner (Finanzamt --FA--) wegen rückständiger Lohnsteuer und steuerlicher Nebenforderungen einer in Insolvenz geratenen Betriebsstätte einer kroatischen Aktiengesellschaft (AG) als Haftungsschuldner in Anspruch genommen. Dabei vertrat das FA die Ansicht, die Kläger seien ausweislich des Inhalts eines von Beamten der Steuerfahndung erstellten Protokolls über die Vernehmung des Klägers als Verfügungsberechtigte nach § 35 der Abgabenordnung (AO) anzusehen. Die nach erfolglosem Einspruch erhobene Klage hatte zum überwiegenden Teil ebenfalls keinen Erfolg.
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Das Finanzgericht (FG) urteilte, dass sich die Verfügungsbefugnis der Kläger insbesondere aus den eigenen Angaben des Klägers bei seiner Vernehmung ergebe. Danach hätten die Kläger --nachdem die einzig vertretungsberechtigte Person die Geschäftsführung niedergelegt hatte-- die AG weitergeführt. Sie hätten noch vorhandene Aufträge abgewickelt, Arbeitnehmer der AG bezahlt und Steueranmeldungen nachgereicht. Zudem weise eine Auskunft der das Gewerberegister führenden Stelle sowie eine Gewerbeabmeldung die Klägerin als vertretungsberechtigte Person der unselbständigen Zweigniederlassung aus. Unstreitig habe die Klägerin die Zweigstelle der AG zeitweilig geleitet. Der in der mündlichen Verhandlung durch den Prozessbevollmächtigten des Klägers erklärte Widerruf der Aussage ändere an diesem Sachverhalt nichts. Der Widerruf sei ohne Rücksprache mit dem Kläger erfolgt; zudem bestünden an dem ordnungsgemäßen Zustandekommen der Aussage des Klägers keine Zweifel. Darüber hinaus hätte ein solcher Widerruf früher geltend gemacht werden müssen, um Zweifel an der Aussage zu begründen. Seit mehreren Jahren sei das Vernehmungsprotokoll Bestandteil der Akten gewesen, in die die Prozessbevollmächtigten des Klägers auch Einsicht genommen hätten.
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Mit ihrer Beschwerde begehren die Kläger die Zulassung der Revision wegen Divergenz (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--) und vermeintlicher Verfahrensfehler (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO). Die in der Urteilsbegründung zitierten Entscheidungen des Bundesfinanzhofs --BFH-- (Beschlüsse vom 10. Oktober 1994 I B 228/93, BFH/NV 1995, 662, und vom 13. August 2007 VII B 20/07, BFH/NV 2008, 10) habe das FG völlig fehlerhaft auf den Streitfall angewandt. Das FG habe nicht dargelegt, aus welchen Gründen die Kläger als Verfügungsberechtigte i.S. des § 35 AO anzusehen seien. Handlungen für die AG seien vom Kläger nicht vorgenommen worden. Die vom FG in Bezug genommene Gewerbeauskunft befinde sich nicht bei den Akten. Lediglich aus einer Gewerbeabmeldung gehe der Name der Klägerin hervor. Die Ausführungen des FG erschöpften sich lediglich in Behauptungen, ohne auf die vom BFH aufgestellten Kriterien für die Annahme einer haftungsrechtlich relevanten Verfügungsbefugnis näher einzugehen. Da die protokollierte Aussage des Klägers in der mündlichen Verhandlung widerrufen worden sei, hätte das FG die Beamten, die die Vernehmung durchgeführt hätten, als Zeugen vernehmen müssen. Zusammen mit anderen Unterlagen habe das FG das Vernehmungsprotokoll dem Prozessbevollmächtigten erst mit Schreiben vom 17. Januar 2011 übersandt. Durch die verspätete Übermittlung sei gegen § 77 Abs. 2 FGO verstoßen worden. Schließlich habe das FG den Vortrag der Kläger nicht hinreichend berücksichtigt. Der Kläger sei lediglich Aufsichtsratsvorsitzender der AG gewesen und könne allein deshalb kein Verfügungsberechtigter i.S. des § 35 AO sein.
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Das FA ist der Beschwerde entgegengetreten.
Entscheidungsgründe
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II. Die Beschwerde hat keinen Erfolg. Die behauptete Divergenz ist nicht hinreichend dargelegt, wie dies § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO erfordert. Im Übrigen liegen die gerügten Verfahrensfehler nicht vor.
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1. Macht der Beschwerdeführer geltend, dass eine Entscheidung des BFH zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich sei (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO), muss er in der Beschwerdebegründung darlegen, inwiefern über eine entscheidungserhebliche Rechtsfrage unterschiedliche Auffassungen bei den Gerichten bestehen und welche sonstigen Gründe eine höchstrichterliche Entscheidung gebieten. Rügt er eine Abweichung von Entscheidungen des BFH, so muss er nach ständiger Rechtsprechung des BFH tragende und abstrakte Rechtssätze aus dem angefochtenen Urteil des FG einerseits und aus den behaupteten Divergenzentscheidungen andererseits herausarbeiten und einander gegenüberstellen, um so eine Abweichung zu verdeutlichen (BFH-Beschlüsse vom 7. Oktober 2003 X B 52/03, BFH/NV 2004, 80, und vom 5. Juli 2002 XI B 67/00, BFH/NV 2002, 1479).
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Diesen Anforderungen wird die Beschwerde nicht gerecht. Ohne abstrakte Rechtssätze aus den in Bezug genommenen BFH-Entscheidungen herauszuarbeiten, behaupten die Kläger lediglich, das FG sei von den Beschlüssen des BFH in BFH/NV 1995, 662 und BFH/NV 2008, 10 abgewichen. Im Kern ihres Vorbringens rügen sie eine rechtsfehlerhafte Anwendung der den Entscheidungen zugrundeliegenden Rechtssätze auf den vorliegenden Streitfall und eine unzureichende Subsumtion des festgestellten Sachverhalts im Hinblick auf die von der Rechtsprechung des BFH entwickelten Kriterien für die Annahme der Stellung des nach § 69 AO in Anspruch genommenen Haftungsschuldners als Verfügungsberechtigter i.S. von § 35 AO. Die behauptete Divergenz wird damit jedoch nicht hinreichend bezeichnet.
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2. Entgegen der Behauptung der Beschwerde liegt ein Verstoß gegen die dem FG nach § 76 Abs. 1 FGO obliegende Sachaufklärungspflicht nicht allein deshalb vor, weil das FG seinem Urteil die in einem Vernehmungsprotokoll festgehaltene Aussage des Klägers zugrunde gelegt hat, ohne den vom Prozessvertreter erklärten Widerruf zu berücksichtigen und ohne die Vernehmungsbeamten als Zeugen zu hören. Nach der Rechtsprechung des BFH ist es grundsätzlich zulässig, die in strafrechtlichen Ermittlungen oder in einem Strafurteil getroffenen Feststellungen im finanzgerichtlichen Verfahren zu verwerten, es sei denn, die Beteiligten erheben gegen die Feststellungen substantiierte Einwendungen und stellen entsprechende Beweisanträge, die das FG nicht nach den allgemeinen für die Beweiserhebung geltenden Grundsätzen unbeachtet lassen kann (BFH-Urteile vom 11. August 2011 V R 50/09, BFH/NV 2011, 1989; vom 10. Januar 1978 VII R 106/74, BFHE 124, 305, BStBl II 1978, 311, und vom 18. August 1981 VII R 45/79, nicht veröffentlicht). Vernehmungsprotokolle aus anderen Verfahren dürfen dabei nicht ohne weiteres als Zeugenbeweis bezeichnet und gewertet werden (BFH-Beschluss vom 26. Juli 2010 VIII B 198/09, BFH/NV 2010, 2096).
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In seiner Urteilsbegründung hat das FG die Verwertung des Vernehmungsprotokolls nicht als Zeugenbeweis bezeichnet. Auch ist zu berücksichtigen, dass es sich um die Vernehmung des Klägers und nicht um die Vernehmung eines unbeteiligten Dritten gehandelt hat. Dem Kläger, der sich nach den Angaben seines Prozessvertreters zumindest zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung im Ausland aufgehalten hat, wäre es unbenommen gewesen, zur mündlichen Verhandlung zu erscheinen und seine damals gemachten Aussagen zu berichtigen. Zudem hat das FG nachvollziehbar dargelegt, warum es dem erst in der mündlichen Verhandlung erklärten Widerruf der Aussage des Klägers durch den Prozessbevollmächtigten keine Bedeutung beigemessen hat. Ausweislich des Sitzungsprotokolls hat der Prozessbevollmächtigte lediglich erklärt, er widerrufe die Aussage seines Mandanten, weil er ernsthafte Zweifel daran habe, dass sein Mandant das in dieser Form gesagt haben soll. Substantiierte Einwendungen gegen die Richtigkeit des Inhalts des Vernehmungsprotokolls sind darin nicht zu erblicken. Auch in der Beschwerdebegründung haben die Kläger nicht substantiiert dargelegt, worauf die geäußerten Zweifel an der Richtigkeit des Protokolls beruhen. Bei diesem Befund konnte das FG das Vernehmungsprotokoll verwerten, ohne gegen seine Sachaufklärungspflicht oder den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme zu verstoßen.
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Auch die mit der Vernehmung des Klägers beauftragten Beamten der Steuerfahndung musste das FG nicht von Amts wegen hören. Wie das Sitzungsprotokoll belegt, hat der Prozessvertreter der Kläger in der mündlichen Verhandlung keine Anträge auf Vernehmung dieser Beamten gestellt. Einem Beteiligten, der in der Tatsacheninstanz anwaltlich vertreten war, ist es im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde in der Regel verwehrt, sich mit Erfolg auf die Unterlassung einer Beweiserhebung zu berufen, die er selbst hätte beantragen können. Die Verletzung der Sachaufklärungspflicht gehört nämlich zu den verzichtbaren Verfahrensmängeln, bei denen das Rügerecht bereits durch das bloße Unterlassen einer rechtzeitigen Rüge verloren geht (Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 7. Aufl., § 115 Rz 103, m.w.N.).
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Schließlich hat das FG die tragenden Erwägungen seiner Entscheidung nicht ausschließlich auf die protokollierte Aussage des Klägers gestützt. Vielmehr hat es die Verfügungsberechtigung der Kläger auch aus den im Streitfall vorliegenden Umständen, die über einen längeren Zeitraum fehlende Geschäftsführung der AG und die sich daraus ergebenden Zwänge sowie auf den Inhalt der Gewerbeabmeldung abgeleitet. In Bezug auf diese Erwägungen sind der Beschwerde keine substantiierten Einwendungen zu entnehmen, die zur Zulassung der Revision führen könnten.
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3. Selbst wenn eine vorherige Einsichtnahme in das Vernehmungsprotokoll nicht möglich gewesen wäre, läge auch insoweit kein Verfahrensmangel vor, als das FG das Vernehmungsprotokoll zusammen mit anderen Unterlagen dem Prozessvertreter der Kläger erst mit Schriftsatz vom 17. Januar 2011 übersandt hat. Die mündliche Verhandlung fand am 9. Februar 2011 statt, so dass ausreichend Zeit bestand, den Inhalt der Unterlagen zur Kenntnis zu nehmen. Eine Verletzung von § 77 Abs. 2 FGO und des Gehörsanspruchs ist somit nicht ersichtlich. Zudem hatte der Prozessvertreter vor der mündlichen Verhandlung Gelegenheit, unter Berufung auf die seiner Ansicht nach verspätete Aktenübermittlung Einwände zu erheben und gegebenenfalls eine Verlegung des Termins zu beantragen. Von dieser Möglichkeit hat er indes keinen Gebrauch gemacht. Wie der Widerruf der Aussage belegt, war er durchaus in der Lage die Bedeutung des Protokolls zu erkennen und zu dessen Inhalt Stellung zu nehmen.
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