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BFH 28.09.2011 - X B 35/11
BFH 28.09.2011 - X B 35/11 - Griffweise Schätzung ohne vorherige Ermittlungsversuche als Verfahrensmangel
Normen
§ 76 Abs 1 S 1 FGO, § 96 Abs 1 S 1 FGO, § 162 Abs 1 AO
Vorinstanz
vorgehend Niedersächsisches Finanzgericht, 19. Januar 2011, Az: 4 K 268/09, Urteil
Leitsatz
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1. NV: Das FG verletzt seine Pflicht, den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen, wenn es in einem Verfahren, in dem zwischen den Beteiligten streitig ist, ob die Kläger einen Reitstall mit Einkunftserzielungsabsicht betrieben haben, zwar die Einkunftserzielungsabsicht bejaht, aber ohne vorherigen Hinweis oder sonstige Ermittlungen einen Privatnutzungsanteil der Pferde griffweise schätzt.
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2. NV: Die griffweise Schätzung stellt im Spektrum der verschiedenen denkbaren Schätzungsmethoden diejenige dar, die mit den größten Unsicherheiten behaftet ist und konkreten Tatsachengrundlagen vollständig oder nahezu vollständig entbehrt.
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3. NV: An den Sachvortrag eines Beteiligten, der sich auf einen vom Üblichen abweichenden Geschehensablauf beruft, sind erhöhte Anforderungen zu stellen.
Tatbestand
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I. Die Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) sind Ehegatten, die zur Einkommensteuer zusammenveranlagt werden. Die Klägerin erzielt als Krankengymnastin Einkünfte aus selbständiger Arbeit. Seit 1992 verfügt sie über eine Zusatzqualifikation für therapeutisches Reiten (Hippotherapie). Ferner absolvierte sie erfolgreich Ausbildungen zur Pferdewirtin (Abschlussprüfung 1982) und zur Landwirtin (Abschlussprüfung 1997).
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Die Klägerin erwarb in den Jahren 1989, 1990 und 1998 insgesamt drei Pferde, die sie bis 1998 unstreitig ausschließlich privat nutzte. Seit 1999 erklärte die Klägerin neben ihren Einkünften aus selbständiger Arbeit Verluste aus einem Gewerbebetrieb "Pferdepension". Im Jahr 2003 erwarben die Kläger ein Grundstück, das u.a. mit einer Reithalle und einem Stallgebäude bebaut war. Seither erklärten sie Verluste aus einem "Reit- und Zuchtbetrieb". Erste Einnahmen von dritter Seite fielen im Jahr 2005 an. Die Anzahl der vorhandenen Pferde stieg auf neun an.
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Der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt --FA--) berücksichtigte die erklärten Verluste aus dem Reit- und Zuchtbetrieb in den angefochtenen Änderungsbescheiden für die Streitjahre 2004 bis 2006 nicht mehr, weil es der Klägerin an der erforderlichen Einkunftserzielungsabsicht gefehlt habe.
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Das Finanzgericht (FG) gab der Klage teilweise statt. Es ging davon aus, dass die Klägerin einen Gewerbebetrieb im einkommensteuerrechtlichen Sinne geführt habe, weil sich weder habe feststellen lassen, dass der Betrieb nicht zur Gewinnerzielung geeignet sei, noch dass persönliche Gründe für die Hinnahme der Verluste vorgelegen hätten. Allerdings seien die erklärten Einkünfte um Entnahmen für die private Nutzung der Pferde zu erhöhen. "Mangels Vorliegens genauer Aufzeichnungen" sei der Privatnutzungsanteil auf ein Drittel zu schätzen. Dies entspreche dem zahlenmäßigen Verhältnis zwischen den drei bereits zuvor vorhandenen und privat genutzten Pferden zu den ab dem Jahr 2004 insgesamt neun gehaltenen Pferden.
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Mit ihrer Beschwerde rügen die Kläger, das FG habe hinsichtlich der Frage der Nutzungsentnahme eine Überraschungsentscheidung getroffen und ihnen das gebotene rechtliche Gehör versagt. Die Frage einer Privatnutzung der Pferde sei während des gesamten Verfahrens niemals angesprochen worden. Auch rügen sie einen Sachaufklärungsmangel, da das FG sie zur Höhe eines etwaigen Privatnutzungsanteils zwingend hätte befragen müssen, bevor es eine Schätzung hätte vornehmen dürfen.
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Das FA hält die Beschwerde für unbegründet. Da eine "Liebhaberei" als 100%ige Privatnutzung anzusehen sei, hätte sich den Klägern aufdrängen müssen, dass es im Verfahren auch um die Höhe des Privatnutzungsanteils gehen könne.
Entscheidungsgründe
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II. Die Beschwerde ist begründet.
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Es liegt ein von den Klägern geltend gemachter Verfahrensmangel vor, auf dem die Entscheidung des FG beruhen kann (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).
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1. Jedenfalls der von den Klägern gerügte Verstoß gegen die Pflicht des FG, den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen (§ 76 Abs. 1 Satz 1 FGO), ist gegeben.
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Die Verpflichtung des FG zur Erforschung des Sachverhalts von Amts wegen bedeutet nicht, dass jeder fernliegenden Erwägung nachzugehen ist. Wohl aber muss das FG die sich im Einzelfall aufdrängenden Überlegungen auch ohne entsprechenden Hinweis der Beteiligten anstellen und entsprechende Beweise erheben (ständige Rechtsprechung; vgl. Senatsbeschluss vom 10. September 2003 X B 132/02, BFH/NV 2004, 495, unter 4., m.w.N.).
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Vorliegend war die Frage einer Quantifizierung des privaten Nutzungsanteils der Pferde während des gesamten Verfahrens weder von den Beteiligten noch vom FG angesprochen worden. Das FG hätte daher nicht ohne weitere Ermittlungen eine griffweise Schätzung des privaten Nutzungsanteils vornehmen dürfen, zumal es sich bei der griffweisen Schätzung im Spektrum der verschiedenen denkbaren Schätzungsmethoden um diejenige handelt, die mit den größten Unsicherheiten behaftet ist und konkreten Tatsachengrundlagen vollständig oder nahezu vollständig entbehrt (Senatsbeschluss vom 18. Mai 2011 X B 124/10, BFH/NV 2011, 1838, unter II.1.b bb).
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Vielmehr hätte es sich dem FG aufdrängen müssen, die Klägerin --in deren Sphäre sich die maßgebenden Tatsachen ereignet haben-- aufzufordern, substantiierte Angaben zur Höhe der Privatnutzung in das Verfahren einzuführen. Denn gemäß § 76 Abs. 1 Satz 2 FGO sind die Beteiligten zur Sachaufklärung heranzuziehen; diese unterliegen dabei der Pflicht zu wahrheitsgemäßen Angaben (§ 76 Abs. 1 Satz 3 FGO).
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Auch materiell-rechtlich setzt die Vornahme einer Schätzung voraus, dass das FG die Besteuerungsgrundlagen nicht ermitteln kann (§ 162 Abs. 1 der Abgabenordnung --AO-- i.V.m. § 96 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 FGO). Vorliegend hat das FG aber keinen Versuch zur Ermittlung der Besteuerungsgrundlagen unternommen.
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2. Vorsorglich weist der Senat darauf hin, dass der Tatrichter, nachdem er seiner Sachaufklärungspflicht unter Heranziehung der Beteiligten genügt hat, naturgemäß nicht gehalten ist, jedweden unbelegten Vortrag der Beteiligten zur Tatsachengrundlage seiner Entscheidung zu machen.
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Dies gilt im Streitfall insbesondere für die im Beschwerdeverfahren vorgebrachte Behauptung der Klägerin, die drei bis 1998 unstreitig ausschließlich privat genutzten Pferde seien seither --obwohl bis in das Jahr 2005 hinein keinerlei Betriebseinnahmen von dritter Seite erzielt worden sind-- "immer mit dem Ziel des Betreibens eines Reitbetriebes und nicht zur persönlichen Freizeitgestaltung geritten" worden. Nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung steigen die Anforderungen an die Tatsachenfeststellungen und an die Wiedergabe der aus ihnen abgeleiteten Folgerungen in dem Maße, in dem das FG seiner Entscheidung einen vom Üblichen abweichenden Sachverhalt oder Geschehensablauf zugrunde legen will (Urteile des Bundesfinanzhofs vom 25. Mai 1988 I R 225/82, BFHE 154, 7, BStBl II 1988, 944, unter B.2.c, und vom 21. September 2005 II R 49/04, BFHE 211, 530, BStBl II 2006, 269, unter II.2.b). In gleicher Weise sind auch an den Sachvortrag eines Beteiligten, der sich --wie hier-- auf einen vom Üblichen abweichenden Geschehensablauf beruft, erhöhte Anforderungen zu stellen. Es kann sich in derartigen Fällen anbieten, auf die im finanzgerichtlichen Verfahren geltende --ggf. auch strafbewehrte (§ 370 AO)-- Wahrheitspflicht des § 76 Abs. 1 Satz 3 FGO besonders hinzuweisen.
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3. Der Senat hält es für angezeigt, nach § 116 Abs. 6 FGO zu verfahren, das angefochtene Urteil aufzuheben und den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen.
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