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BVerfG 23.09.2014 - 2 BvR 2545/12
BVerfG 23.09.2014 - 2 BvR 2545/12 - Nichtannahmebeschluss: Zu den Vorgaben des Schuldprinzips (Art 2 Abs 1 GG iVm Art 1 Abs 1 GG) bzgl der erneuten strafrechtlichen Verurteilungen wegen eines Unterlassungsdauerdelikts - hier: keine Verletzung des Schuldprinzips durch erneute Verurteilung eines Ausländers wegen Verletzung der Mitwirkungspflicht gem § 49 Abs 2 AufenthG (juris: AufenthG 2004) bei neuem Tatentschluss
Normen
Art 1 Abs 1 GG, Art 2 Abs 1 GG, § 49 Abs 2 AufenthG 2004, § 95 Abs 1 Nr 5 AufenthG 2004
Vorinstanz
vorgehend OLG Düsseldorf, 4. Oktober 2012, Az: III 2 RVs 140/12, Beschluss
vorgehend LG Duisburg, 15. Juni 2012, Az: 64 Ns 148 Js 518/11 34/12, Urteil
vorgehend AG Wesel, 20. Dezember 2011, Az: 7 Ds-148 Js 518/11-408/11, Urteil
Gründe
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I.
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Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen die zweite Verurteilung wegen Verstoßes gegen das Aufenthaltsgesetz.
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1. Der Beschwerdeführer, dessen Staatsangehörigkeit ungeklärt ist, reiste im Jahr 2004 in die Bundesrepublik ein und stellte einen Asylantrag, der mit inzwischen bestandskräftigem Bescheid vom 15. Februar 2005 als offensichtlich unbegründet abgelehnt wurde. Ein von der zuständigen Ausländerbehörde ergangener Ausweisungsbescheid wurde durch rechtskräftigen Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 27. April 2007 bestätigt. Seither erteilt die Ausländerbehörde dem Beschwerdeführer jeweils eine auf einen Monat befristete Duldung und fordert ihn in regelmäßigen Abständen dazu auf, seinen Auskunftspflichten gemäß § 49 Abs. 2 AufenthG zur Identität und Staatsangehörigkeit nachzukommen.
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2. Mit Urteil vom 6. Oktober 2009 verurteilte das Amtsgericht den Beschwerdeführer wegen "vorsätzlichen Verstoßes gegen das Aufenthaltsgesetz" zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde.
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3. Auch nach Rechtskraft dieser Verurteilung forderte die zuständige Ausländerbehörde den Beschwerdeführer in kurzen Abständen weiter zur Erfüllung seiner Verpflichtungen auf. Der Beschwerdeführer kam auch diesen Aufforderungen indes nicht nach, woraufhin das Amtsgericht den Beschwerdeführer am 20. Dezember 2011 "wegen illegalen Aufenthalts" zu einer Freiheitsstrafe von vier Monaten verurteilte. Auf die Berufung des Beschwerdeführers reduzierte das Landgericht die Freiheitsstrafe mit Urteil vom 15. Juni 2012 auf zwei Monate.
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Nach den landgerichtlichen Feststellungen gab der Beschwerdeführer gegenüber dem Ausländeramt an, aus Butlo in Liberia zu stammen. Die Botschaft Liberias weigerte sich allerdings, dem Beschwerdeführer ein Passersatzpapier auszustellen, nachdem ihm dort anlässlich seiner Vorführung am 2. Mai 2006 bescheinigt worden war, dass er mit Sicherheit kein liberianischer Staatsangehöriger sei. Demgegenüber ergab die Vorführung des Beschwerdeführers bei der nigerianischen Botschaft am 23. August 2008, dass der Beschwerdeführer mit hoher Wahrscheinlichkeit aus Nigeria stamme, für die Ausstellung eines Passersatzpapieres aber weitere Nachweise erforderlich seien. Nachdem dieser Sachverhalt zu der Verurteilung vom 6. Oktober 2009 geführt hatte, reagierte der Beschwerdeführer auch weiterhin auf schriftliche Aufforderungen des Ausländeramts vom 31. Mai, 16. Juni, 14. Juli und 24. August 2011, nunmehr wahrheitsgemäße Angaben zu seiner Identität und Staatsangehörigkeit zu machen, nicht. Auf die mögliche Strafbarkeit seines Verhaltens wurde der Beschwerdeführer von der Behörde hingewiesen. Dennoch erklärte der Beschwerdeführer, als er am 2. August 2011 beim Ausländeramt erschien, um sich - wie jeden Monat - seine Duldungspapiere abzuholen, gegenüber einem Mitarbeiter, dass er das ihm vorgelegte Passersatzpapier nicht ausfüllen werde, weil er bereits alle Angaben gemacht habe. Er könne nicht gezwungen werden, weitere Angaben zu seiner Identität zu machen, und er wolle an der Aufklärung seiner Identität nicht mitwirken.
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4. Die gegen die Verurteilung durch das Landgericht erhobene Revision des Beschwerdeführers wurde mit Beschluss des Oberlandesgerichts vom 4. Oktober 2012 gemäß § 349 Abs. 2 und 3 StPO als unbegründet verworfen, wobei der Schuldspruch klarstellend dahingehend berichtigt wurde, dass der Beschwerdeführer "wegen Verletzung aufenthaltsrechtlicher Mitwirkungspflichten durch Nichtangabe der Staatsangehörigkeit" (vgl. § 95 Abs. 1 Nr. 5 AufenthG) schuldig ist.
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II.
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Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen, weil die Annahmevoraussetzungen des § 93a Abs. 2 BVerfGG nicht vorliegen. Die Verfassungsbeschwerde hat keine Aussicht auf Erfolg. Die Verfassungsbeschwerde ist unzulässig, soweit sie sich gegen die amtsgerichtliche Verurteilung wendet, und im Übrigen unbegründet.
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Die angegriffenen Entscheidungen des Landgerichts und des Oberlandesgerichts verletzen den Beschwerdeführer insbesondere nicht in seinen Grundrechten aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip (Schuldprinzip).
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1. Auf dem Gebiet der Strafrechtspflege bestimmt Art. 1 Abs. 1 GG die Auffassung vom Wesen der Strafe. Der Grundsatz "Keine Strafe ohne Schuld" hat Verfassungsrang; er findet seine Grundlage im Gebot der Achtung der Menschenwürde sowie in Art. 2 Abs. 1 GG und im Rechtsstaatsprinzip (vgl. BVerfGE 9, 167 169>; 86, 288 313>; 95, 96 140>; stRspr).
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Aus diesem Grundsatz folgt für die Strafgerichte das Gebot schuldangemessenen Strafens im Einzelfall. Die Strafe ist im Gegensatz zur reinen Präventionsmaßnahme dadurch gekennzeichnet, dass sie - wenn nicht ausschließlich, so doch auch - auf gerechte Vergeltung für ein rechtlich verbotenes Verhalten abzielt. Mit der Strafe wird dem Täter ein sozialethisches Fehlverhalten vorgeworfen (vgl. BVerfGE 20, 323 331>; 95, 96 140>; 110, 1 13>; 133, 168 198>). Eine solche strafrechtliche Reaktion wäre ohne Feststellung der individuellen Zurechenbarkeit mit dem Rechtsstaatsprinzip unvereinbar (vgl. BVerfGE 6, 389 439>; 20, 323 331>; 95, 96 140>; 133, 168 198>). Die Strafe muss in einem gerechten Verhältnis zur Schwere der Tat und zum Verschulden des Täters stehen (vgl. BVerfGE 50, 5 12>; 73, 206 253>; 86, 288 313>; 96, 245 249>; 133, 169 198>). Insoweit deckt sich der Schuldgrundsatz mit dem Übermaßverbot (vgl. BVerfGE 50, 205 215>; 73, 206 253>; 86, 288 313>; 95, 96 140>). Das Bundesverfassungsgericht prüft nur nach, ob dem Schuldgrundsatz überhaupt Rechnung getragen oder ob seine Tragweite bei der Auslegung und Anwendung des Strafrechts grundlegend verkannt worden ist (BVerfGE 95, 96 141>).
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2. Bei Unterlassungsdauerdelikten müssen die Gerichte sich deshalb nach einer ersten Verurteilung mit der Frage auseinandersetzen, ob durch das weitere Unterlassen überhaupt erneut schuldhaft Unrecht verwirklicht wird. Sie müssen prüfen, ob ein Angeklagter angesichts der Einmaligkeit einer von ihm geforderten Leistung durch die bloße Fortsetzung seines Nichthandelns ein erneutes rechtlich verbotenes Verhalten gezeigt hat, das eigenständiger Sanktionierung zugänglich ist (vgl. BVerfGK 10, 134 140>).
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Darüber hinaus haben die Gerichte den Schuldumfang der von ihnen angenommenen zweiten Tat im Verhältnis zur ersten Tat zu erörtern. Dass der Staat durch einen bloßen, nicht näher begründeten Verweis auf die dogmatische Figur der "Zäsurwirkung" einer vorausgegangenen Verurteilung selbst die Voraussetzungen für die Verurteilung wegen einer vermeintlich neuen Tat schafft, stellt einen offensichtlichen Verstoß gegen das Schuldprinzip dar, denn nicht die individuelle Schuld ist in einem solchen Fall Grund der Bestrafung und Grundlage der Strafzumessung, sondern die von Zufälligkeiten abhängige Geschwindigkeit der Strafverfolgung (vgl. BVerfGK 10, 134 140 f.>).
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Dies bedeutet aber nicht, dass der ersten Verurteilung keinerlei Abgrenzungsfunktion zukäme. Sie markiert die zeitliche Grenze für den möglichen Beginn der Verwirklichung neuen schuldhaften Unrechts durch die Fortsetzung des Nichthandelns entgegen der durch die jeweilige Strafnorm begründeten rechtlichen Verpflichtung. Fasst der Verurteilte einen neuen, von dem ersten qualitativ verschiedenen, weil die erste Verurteilung außer Acht lassenden Tatentschluss, bleibt eine zweite Verurteilung ohne Verstoß gegen das Schuldprinzip möglich (vgl. BVerfGK 10, 134 141>). Unter dieser Voraussetzung kann auch der gesteigerte Ungehorsam, der in der neuerlichen Missachtung der Rechtsordnung zum Ausdruck kommt, auf der Ebene der Strafzumessung berücksichtigt werden, ohne dass der zweiten Verurteilung allein deswegen eine mit dem Schuldprinzip nicht zu vereinbarende Beugewirkung zukäme (vgl. BVerfGK 10, 134 141 f.>).
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3. Diesen verfassungsrechtlichen Maßstäben werden die angegriffenen Entscheidungen gerecht.
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a) Nach den fachgerichtlichen Feststellungen hat der Beschwerdeführer das Ausländeramt aufgesucht und gegenüber dem zuständigen Sachbearbeiter ausdrücklich erklärt, er sei nicht bereit, die ihm vorgelegten Passersatzpapiere auszufüllen und weitere Angaben zu machen. Damit hat der Beschwerdeführer in einer neuen, konkretisierten Situation, in der er persönlich zur Mitwirkung aufgefordert und auch auf eine mögliche Strafbarkeit hingewiesen wurde, ein Verhalten gezeigt, dass von den Fachgerichten in vertretbarer Weise als Ausdruck eines neuen Tatentschlusses gewertet werden konnte.
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Solange die Fachgerichte nicht allein an eine fiktive "Zäsurwirkung" einer Vorverurteilung anknüpfen, sondern - wie hier geschehen - einen von dem ersten qualitativ verschiedenen Tatentschluss feststellen, kann auch bei Unterlassungsdauerdelikten eine erneute Verurteilung ohne Verstoß gegen das Schuldprinzip erfolgen. Aus einer einmal erfolgten Verurteilung folgt kein Freibrief für straffreies, obgleich strafbewährtes zukünftiges Verhalten.
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Die Strafgerichte haben aus dem Verhalten des Beschwerdeführers in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise auf einen neuen Tatentschluss geschlossen. Bereits in den äußeren Umständen der Konfrontation mit dem Mitarbeiter des Ausländeramtes liegende Indizien ließen für das Tatgericht diesen Schluss zu. Denn der Beschwerdeführer, der die mehrfachen schriftlichen Aufforderungen der Ausländerbehörde zur Mitwirkung zuvor stets ignoriert hatte, hat sich aufgrund der direkten Begegnung mit den Mitarbeitern des Ausländeramtes in einer neuen Situation befunden, in der er aufgrund der eindringlichen Aufforderung zur Mitwirkung an der Identitätsfeststellung und der Belehrung über eine mögliche Strafbarkeit seines Verhaltens einen neuen Entschluss darüber fassen musste, ob er an seiner Verweigerungshaltung gleichwohl festhalten oder seiner rechtlichen Verpflichtung nunmehr nachkommen wolle. Indem der Beschwerdeführer sich - vor diese Wahl gestellt - dazu entschlossen hat, die Mitwirkung an der Identitätsfeststellung weiter zu unterlassen, hat er erneut strafwürdiges Unrecht verwirklicht.
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b) Schließlich geben die angegriffenen gerichtlichen Entscheidungen auch dafür, dass die verhängte Strafe den Boden gerechten Schuldausgleichs verlassen und lediglich unter dem - verfassungsrechtlich nicht anerkannten - Strafzweck der Beugewirkung Sinn ergeben könnten, nichts her. Die Sanktion stellt der Sache nach kein Beugemittel dar, weil es sich bei ihr um eine Reaktion auf eine sich aufgrund des neuerlichen Tatentschlusses verstärkende Missachtung der strafbewehrten gesetzlichen Vorgaben handelt. Sie wirkt nicht beugend auf einen gleichbleibenden Willensentschluss des Beschwerdeführers ein, sondern setzt gerade einen neuen Willensentschluss voraus, für den die Verurteilung dann erst - retrospektiv - einen gerechten Schuldausgleich darstellt.
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Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.
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Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
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