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BFH 04.02.2016 - III R 16/14
BFH 04.02.2016 - III R 16/14 - Kindergeldanspruch eines in Deutschland wohnenden Selbständigen für in Polen lebende Kinder
Normen
EWGV 1408/71, § 65 Abs 1 S 1 Nr 2 EStG 2002, EStG VZ 2006, EStG VZ 2007, EStG VZ 2008
Vorinstanz
vorgehend Finanzgericht Rheinland-Pfalz, 3. Juni 2013, Az: 2 K 1727/10, Urteil
nachgehend Finanzgericht Rheinland-Pfalz, 14. Juli 2017, Az: 5 K 1390/16, Beschluss
Leitsatz
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NV: Auch wenn Deutschland aufgrund der Zuständigkeitsregelungen der VO (EWG) Nr. 1408/71 eigentlich nicht zur Erbringung von Familienleistungen zuständig ist, kann es trotzdem verpflichtet sein, die Differenz zwischen den Familienleistungen nach ausländischem Recht und dem Kindergeld nach deutschem Recht zu gewähren (Anschluss an EuGH-Urteil vom 12.6.2012 C-611/10, C-612/10, Hudzinski/Wawrzyniak, EU:C:2012:339, DStRE 2012, 999) .
Tenor
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Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Finanzgerichts Rheinland Pfalz vom 3. Juni 2013 2 K 1727/10 aufgehoben.
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Die Sache wird an das Finanzgericht Rheinland-Pfalz zurückverwiesen.
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Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens übertragen.
Tatbestand
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I. Der aus Polen stammende Kläger und Revisionskläger (Kläger) war in der Bundesrepublik Deutschland (Deutschland) selbständig tätig. Er war in Polen in der Kasse der Sozialversicherung für Landwirte sozialversichert, ebenso wie seine Ehefrau. Die im Januar 1988 geborene Tochter A und die im August 1994 geborene Tochter B lebten in Polen im Haushalt der Ehefrau.
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Der Kläger beantragte in Deutschland Kindergeld für die beiden Töchter. Er gab an, die Kinder befänden sich in Ausbildung. Die Beklagte und Revisionsbeklagte (Familienkasse) lehnte den Antrag durch Bescheid vom 5. August 2008 ab, da nach ihrer Ansicht Polen für die Gewährung von Familienleistungen zuständig sei. Dagegen wandte sich der Kläger mit Einspruch. Durch Bescheide vom 5. Mai 2010 half die Familienkasse dem Begehren des Klägers zum Teil ab und setzte Kindergeld für einzelne Zeiträume in gesetzlicher Höhe fest. Durch Einspruchsentscheidung vom selben Tage wies es den Rechtsbehelf, der sich nunmehr gegen die Versagung von Kindergeld für die übrigen Zeiträume richtete, zurück.
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Mit der anschließend erhobenen Klage begehrte der Kläger Kindergeld für beide Töchter für den Zeitraum März 2006 bis August 2006, darüber hinaus für B von September 2007 bis Mai 2010 und für A von September 2007 bis Dezember 2008. Für einzelne Monate begehrte er Kindergeld nicht in gesetzlicher Höhe, sondern Teilkindergeld.
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Das Finanzgericht (FG) wies die Klage ab. Es war der Ansicht, ein Anspruch auf Kindergeld sei aufgrund des Vorrangs der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (VO Nr. 1408/71) ausgeschlossen. Hinsichtlich der in Deutschland ausgeübten gewerblichen Tätigkeit gelte der Kläger nicht als Selbständiger, da er nicht in Deutschland im Hinblick auf seine gewerbliche Tätigkeit versichert sei und auch nicht versicherungspflichtig gewesen sei. Er unterliege daher den polnischen Rechtsvorschriften. Auch hinsichtlich der Monate, für welche der Kläger das Kindergeld in voller Höhe beanspruche, sei die Klage unbegründet, weil Deutschland der nicht zuständige Mitgliedstaat sei und der Kläger dadurch, dass er nach Deutschland gezogen und von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht habe, keinen Nachteil erlitten habe. Er habe wegen des Überschreitens der Einkommensgrenze keinen Anspruch auf Familienleistungen nach polnischem Recht. Auch habe der Kläger nicht nachgewiesen, dass seine Ehefrau in Deutschland lebe; eine Gewerbeanmeldung vom Februar 2009 sei als Nachweis nicht ausreichend.
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Zur Begründung der Revision trägt der Kläger vor, das FG sei zu Unrecht davon ausgegangen, dass die VO Nr. 1408/71 eine Anwendung der §§ 62 ff. des Einkommensteuergesetzes (EStG) ausschließe.
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Der Kläger beantragt sinngemäß, das angefochtene Urteil, den Ablehnungsbescheid vom 5. August 2008 in Gestalt der Änderungsbescheide vom 5. Mai 2010 sowie der Einspruchsentscheidung vom 5. Mai 2010 aufzuheben und die Familienkasse zu verpflichten, für das Kind B Kindergeld für die Zeiträume März 2006 bis August 2006 sowie September 2007 bis August 2008 in Höhe der Differenz zu den polnischen Familienleistungen und für die Zeit von September 2008 bis April 2010 in gesetzlicher Höhe festzusetzen, für das Kind A Kindergeld für die Zeit von März 2006 bis August 2006 in Höhe der Differenz zu den polnischen Familienleistungen sowie für die Zeit von September 2007 bis Dezember 2008 in gesetzlicher Höhe festzusetzen.
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Die Familienkasse beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache an das FG zurückzuverweisen.
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Sie trägt vor, entgegen der Rechtsauffassung des FG scheide ein Anspruch auf deutsches Kindergeld nicht bereits deshalb aus, weil der Kläger aufgrund der VO Nr. 1408/71 den polnischen Rechtsvorschriften unterliege. Insoweit teile sie die Auffassung des Klägers. Die Streitsache sei jedoch nicht spruchreif, weil das FG aufgrund seiner Rechtsansicht keine tatsächlichen Feststellungen getroffen habe.
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Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 90 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO-- i.V.m. § 121 FGO).
Entscheidungsgründe
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II. A. Bereits während des Klageverfahrens vor dem FG hat mit Wirkung zum 1. Mai 2013 aufgrund eines Organisationsaktes ein gesetzlicher Parteiwechsel stattgefunden. In die Beteiligtenstellung der Familienkasse bei der Agentur für Arbeit … ist die Familienkasse Sachsen eingetreten (vgl. Beschluss des Vorstands der Bundesagentur für Arbeit Nr. 21/2013 vom 18. April 2013 gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 11 des Finanzverwaltungsgesetzes, Amtliche Nachrichten der Bundesagentur für Arbeit, Ausgabe Mai 2013, S. 6 ff., Nr. 2.2 der Anlage 2).
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B. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Streitsache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FGO). Das FG war zu Unrecht der Ansicht, ein Anspruch auf Kindergeld nach deutschem Recht sei ausgeschlossen, weil Polen vorrangig zur Gewährung von Familienleistungen zuständig sei.
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1. Da es sich um einen grenzüberschreitenden Sachverhalt mit Bezug zum EU-Ausland handelt, richtet sich die Gewährung von Kindergeld für die in Polen lebenden Kinder des Klägers in den streitigen Zeiträumen nicht nur nach §§ 62 ff. EStG, sondern auch nach der VO Nr. 1408/71. Der persönliche Anwendungsbereich dieser Verordnung ist eröffnet, denn der Kläger war nach den Feststellungen des FG in der polnischen Sozialversicherung für Landwirte versichert (Senatsurteil vom 4. August 2011 III R 55/08, BFHE 234, 316, BStBl II 2013, 619). Sollte Polen für einzelne Zeiträume der für die Erbringung von Familienleistungen zuständige Staat sein, so folgt daraus nicht, dass Deutschland aus diesem Grund gehindert wäre, die Differenz zu etwaigen polnischen Familienleistungen zu zahlen. Denn die Zuständigkeitsregelungen der Art. 13 ff. VO Nr. 1408/71 entfalten keine Sperrwirkung gegenüber der Anwendung des nationalen Rechts (s. im Einzelnen z.B. Senatsurteile vom 16. Mai 2013 III R 8/11, BFHE 241, 511, BStBl II 2013, 1040; vom 14. November 2013 III R 12/11, BFH/NV 2014, 506, und vom 13. November 2014 III R 18/14, BFH/NV 2015, 331). Auch verstößt § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG, der regelt, dass ein Anspruch auf Kindergeld nach §§ 62 ff. EStG ausgeschlossen ist, sofern im Ausland ein Anspruch auf vergleichbare Leistungen besteht, gegen die Arbeitnehmer-Freizügigkeit nach Art. 45 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union, soweit die Vorschrift die Gewährung von Differenzkindergeld verbietet (Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union Hudzinski/ Wawrzyniak vom 12. Juni 2012 C-611/10, C-612/10, EU:C:2012:339, Deutsches Steuerrecht/Entscheidungsdienst 2012, 999). Dies gilt entsprechend für Selbständige (Senatsurteil vom 16. Juli 2015 III R 39/13, BFHE 251, 154).
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2. Das angefochtene Urteil, das diesen Rechtsgrundsätzen widerspricht, ist aufzuheben. Die Sache ist nicht spruchreif. Das FG hat --von seinem rechtlichen Standpunkt aus folgerichtig-- keine Feststellungen getroffen, die eine abschließende Entscheidung darüber erlauben, ob und in welcher Höhe dem Kläger Kindergeld nach §§ 62 ff. EStG für seine Töchter in den einzelnen Zeiträumen zusteht. Es wird dies nachzuholen haben.
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3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 143 Abs. 2 FGO.
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