Fachportal für Leistungserbringer

„Hitzeschutz gibt es nicht umsonst“

Schon mit einfachen Präventionsmaßnahmen ließen sich viele hitzeassoziierte Sterbefälle und Gesundheitsprobleme verhindern, sagt der Arzt Dr. med. Martin Herrmann. Der Vorsitzende der Deutschen Allianz Klimawandel und Gesundheit (KLUG) fordert klare Zuständigkeiten und feste Budgets für den Hitzeschutz.

News Arztpraxen
Menschen liegen und sitzen auf den Magellanterrassen in der Sommersonne und blicken auf die Elbphilharmonie und die Hafencity in Hamburg.
iStock.com/MattRied
Interview mit :

Martin Herrmann

Jahrgang 1957, promovierter Mediziner. Herrmann ist Mitglied des Ausschusses für Klima der Bundesärztekammer und Vorsitzender der Deutschen Allianz Klimawandel und Gesundheit (KLUG)

Herr Dr. Herrmann, wie viele Menschen sterben hierzulande hitzebedingt jedes Jahr?

Das RKI kam für 2022 auf rund 4.500 Menschen. In einer aktuellen epidemiologischen Studie des Helmholtz Zentrums München errechneten die Wissenschaftler knapp 10.000 hitzeassoziierte Sterbefälle im gleichen Zeitraum. Dazu kommen noch Millionen Menschen, die stark unter Hitze leiden. Einer aktuellen Studie zufolge fühlen sich 23 Prozent aller Beschäftigten im Job durch Extremwetter sehr belastet – das sind immerhin mehr als zehn Millionen Menschen.

Welche Berufsgruppen sind besonders betroffen?

Das sind Menschen die draußen arbeiten, aber auch Pflegekräfte. Von ihnen berichten 49 Prozent über große Probleme bei der Arbeit an heißen Tagen. Eine Rolle spielt sicher auch, dass in der Pflege relativ viele ältere Menschen – teilweise mit Vorerkrankungen – arbeiten. Gleichzeitig steigt bei Extremwetter die Zahl der Krankenhauseinweisungen, werden Rettungsdienste stärker beansprucht und müssen Menschen in Pflegeeinrichtungen intensiver betreut werden. So klagen mehr als 50 Prozent der Pflegebedürftigen über schwere Beeinträchtigungen bei Hitze. Bei tropischen Temperaturen steigt der Arbeitsaufwand in der Pflege, während die Ausfallquote bei den Pflegekräften ebenfalls steigt. Das kann schnell zu einer Versorgungskrise führen.

Welche Bevölkerungsgruppen sind noch gefährdet?

Unter anderem vorerkrankte Menschen, beispielsweise mit kardiovaskulären und psychischen Einschränkungen. Hinzu kommen obdachlose oder sozial isolierte Menschen; Schwangere und Kleinkinder. Ein ärztlicher Kollege erzählte mir, dass während Hitzewellen verstärkt Jugendliche und junge Erwachsene die Praxen aufsuchen.

In diesem Alter gelten Menschen als besonders resilient. Wie interpretieren Sie die Beobachtung Ihres Kollegen?

Zunächst ist die Morbidität nicht so stark altersbedingt wie die Mortalität. Außerdem nehmen noch viel zu wenige das Problem ernst. Ich weiß von Wettkämpfen, die in der Mittagshitze stattfanden, und anschließend landeten 15 Nachwuchssportler aufgrund von Kreislaufproblemen in der Notaufnahme.

Sie kritisieren, dass Deutschland auf Hitzewellen nicht gut vorbereitet ist. Woran liegt das?

An zwei Gründen. Zum einen herrscht bei vielen Entscheidungsträgern große Unkenntnis über Gesundheitsgefahren durch Hitze und zweitens fehlt eine Gesetzesgrundlage über Zuständigkeiten und Finanzierungsmöglichkeiten beim Hitzeschutz.

Was ließe sich dagegen tun?

Wir, damit meine ich ein Bündnis aus mehr als 40 bundesweiten Institutionen aus dem Gesundheitswesen, darunter KLUG und der AOK-Bundesverband, wollen das Thema mehr in den Fokus der Bevölkerung und von Entscheidern rücken. Bürgermeister, Wissenschaftler, Lehrer, Ärzte, Pflegekräfte oder Führungskräfte in Unternehmen – alle müssen in ihren Bereichen Hitzeschutzpläne aufstellen und umsetzen.

Bislang verfügen aber zu wenige Entscheidungsträger über eine ausreichende Hitzekompetenz. Unser Ziel ist, das in den nächsten Jahren zu ändern. Ein Baustein in dieser Strategie ist der jährliche Hitzeaktionstag, der diesmal am 5. Juni stattgefunden hat. Die Botschaft lautete: Nehmt das Thema endlich ernst und handelt.

Hitzeschutzmaßnahmen kosten Geld. Eventuell braucht es mehr Personal, vielleicht bauliche Veränderungen an Gebäuden. Sehen Sie in Zeiten knapper Kassen ein Finanzierungsproblem?

Hitzeschutz gibt es nicht umsonst und reine Absichtserklärungen bringen uns nicht weiter. Stattdessen braucht es Budgets, beispielsweise für Kommunen, Kliniken, Kitas und Schulen. Und diese Budgets müssen gesetzlich garantiert werden. Notfalls müssen Ausgaben umgeschichtet, Maßnahmen zugunsten des Hitzeschutzes priorisiert werden. Es kann nicht sein, dass es bis ins letzte Detail ausgearbeitete Brandschutzbestimmungen gibt und die Hitze, durch die um ein Vielfaches mehr Menschen sterben als durch Brände, ignoriert wird. Denn eins ist klar: Schon durch einfache Maßnahmen ließen sich viele Todesfälle verhindern.

 

Die aktuelle Ausgabe als PDF

Lesen Sie jetzt die gesamte Ausgabe.

Vor allem Menschen in Regionen mit hoher Bevölkerungsdichte fürchten tropische Temperaturen, ein Drittel aller Bürger wünscht sich mehr Aufklärung zum Thema Hitzeschutz. Deshalb startete die AOK zwei neue Informationsangebote.

Format: PDF | 549 KB

Newsletter für Ärztinnen, Ärzte und Praxisteams

Ein Arzt liest etwas auf einem Tablet. Teaser für den Newsletter PRO DIALOG

Die AOK-Sonderseiten mit dem Titel „PRO DIALOG“ erscheinen alle 14 Tage donnerstags in der Ärzte Zeitung. Ziel der Kooperation ist es, Ärztinnen, Ärzte und Praxisteams aktuell über Projekte, Publikationen und Positionen der AOK zu informieren. Mit diesem Newsletter verpassen Sie keine Ausgabe mehr. 

Jetzt anmelden!