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„Das Gesetz entbehrt an vielen Stellen jeglicher Evidenz“

Die Bundesregierung will die Herzgesundheit der Bevölkerung verbessern, mit Prävention Infarkte und Schlaganfälle reduzieren. Dr. Gerhard Schillinger vom AOK-Bundesverband begrüßt die Intention, warnt aber vor wirkungslosen Maßnahmen und Überlastung von Arztpraxen.

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Frau misst Blutdruck einer anderen Frau
iStock.com/urbazon
Interview mit:

Dr. Gerhard Schillinger

Dr. Gerhard Schillinger ist Facharzt für Neurochirurgie. Seit 2009 leitet er den Stab Medizin im AOK-Bundesverband.

Herr Dr. Schillinger, Gesundheitsminister Lauterbach plant ein „Gesundes-Herz-Gesetz“ (GHG), das unter anderem beinhaltet, die bestehenden Disease-Management-Programme (DMP) auch für Risikopatienten zu öffnen. Warum kritisiert die AOK dieses Vorhaben?

Die Entwicklung der bisherigen Disease-Management-Programme ist ja darauf ausgerichtet, bei chronischen Erkrankungen die Behandlung an der besten verfügbaren Evidenz auszurichten. Durch die Strukturierung der Versorgung und die Einbeziehung der Patientinnen und Patienten haben wir mit den bestehenden DMP eine hohe Effektivität erreicht und die Versorgung von Menschen mit chronischen Erkrankungen tatsächlich verbessert.

Für Menschen mit einem erhöhten Risiko für solche Erkrankungen gibt es aber eine solche Evidenz gar nicht, auf der man eine Erweiterung der DMP aufbauen könnte. Die in den DMP formulierten Maßnahmen sind auf diese Patientengruppe gar nicht anwendbar. Daher besteht aus meiner Sicht eher Gefahr, dass die bestehenden, gut funktionierenden DMP durch die Öffnung für Risikopatienten verwässert werden.

In einer Folgenabschätzung zu den DMP-Plänen im GHG gehen Sie von einer zusätzlichen Belastung der rund 44.000 bislang an DMP teilnehmenden Hausärzte von 32 Arbeitstagen pro Jahr aus. Woraus resultiert diese Zahl?

Wir haben die Fallzahl der zusätzlichen DMP-Einschreibungen auf Basis von Faktoren abgeschätzt, die wir mit vorhandenen epidemiologischen Daten und Krankenkassendaten operationalisieren können. Im Falle der Koronaren Herzkrankheit kämen bei einer Öffnung des DMP für Risikopatienten beispielsweise alle Menschen mit Bluthochdruck, Raucher, Diabetiker und Menschen mit einer Fettstoffwechselstörung für die Teilnahme in Frage. Bei der Indikation Diabetes wären es alle Menschen mit einer Adipositas, bei Asthma bronchiale alle Menschen mit atopischer Rhinitis.

Wir haben dann mit 20 Prozent die Hälfte der Einschreibequote der aktuell bestehenden DMP angenommen und kommen damit nach einer Hochlaufphase von fünf Jahren auf insgesamt 34 Millionen zusätzliche DMP-Einschreibungen. Wenn man von zwei Konsultationen in der Hausarztpraxis pro Jahr ausgeht und für Behandlungsgespräch sowie Dokumentation der Patientendaten jeweils etwa zehn Minuten ansetzt, kommt man auf etwa 11 Millionen Arztstunden jährlich, die zusätzlich gebraucht würden. Das ist alles extrem konservativ geschätzt, wir haben zum Beispiel keine Zeit für Schulungen eingerechnet. Bezogen auf die 44.000 Hausärztinnen und Hausärzte, die aktuell am DMP teilnehmen, kommt man dann auf durchschnittlich 32 zusätzliche Arbeitstage. Das wäre praktisch ein 13. Arbeitsmonat.

Was wären die Folgen für die Versorgung der rund 7,4 Millionen Menschen, die aktuell in die DMP eingeschrieben sind?

Wenn die Ärztinnen und Ärzte tatsächlich so viel Zeit für DMP-Risikopatienten aufbringen müssten, dann ginge dies auf jeden Fall zu Lasten der Versorgung der bereits Erkrankten, für die DMP eigentlich konzipiert worden sind. Das ist die vulnerable Patientengruppe, die die strukturierte und regelmäßige medizinische Behandlung der Ärztinnen und Ärzte dringend braucht, um schwere Folgeschäden zu verhindern. Letztlich gibt das Bundesgesundheitsministerium an dieser Stelle auch ein Versorgungsversprechen, das kaum erfüllbar ist. Wenn es in der Praxis nicht eingelöst werden kann, was zu befürchten ist, müssen dafür am Ende die Hausärzte und die Krankenkassen geradestehen.

Was ist Ihr Fazit zu den GHGPlänen von Minister Lauterbach?

Dieses Gesetz entbehrt zu vielen Stellen leider jeglicher Evidenz. An anderen Stellen sieht es Maßnahmen vor, die in Deutschland bereits Versorgungsrealität sind.

So umfassen zum Beispiel die geplanten Erweiterungen der Gesundheitsuntersuchungen lauter Punkte, die schon Bestandteil der Früherkennung sind. Am besten sollte die Regierung das Gesetz komplett zurücknehmen, denn aus meiner Sicht kann keine der vorgesehenen Maßnahmen die Gesundheitsversorgung wirklich voranbringen.

Was wären die Alternativen?

Viel wirksamer wäre es, wenn Deutschland endlich seine Hausaufgaben im Bereich der Primärprävention machen würde. Wir brauchen dringend bevölkerungsweite Maßnahmen zur Reduktion des Konsums von Tabak, Alkohol und Lebensmitteln mit zu viel Fett und zu viel Zucker.

Außerdem braucht es Rahmenbedingungen, unter denen die Menschen Freude daran haben, sich mehr zu bewegen. Stattdessen will man die Mittel für Bewegungsprogramme, von denen insbesondere auch Sportvereine profitieren, kürzen.

Weiterführende Informationen

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Risikofaktoren von Herz-Kreislauf-Erkrankungen bereits vor Auftreten erster Symptome erkennen? Dieses Ziel verfolgt Lauterbach mit seinem „Gesundes-Herz-Gesetz“. Warum das Vorhaben aber gerade die wichtigen DMP zum wackeln bringen könnte.

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