Diagnose von Depressionen: „Ärzte müssen die richtigen Fragen stellen“
Wie sind aktuelle Statistiken zur Häufigkeit von Depressionen einzustufen? Ulrich Hegerl von der Stiftung Deutsche Depressionshilfe gibt im Interview Antworten. Und erläutert, welche Fragen im Patientengespräch wichtig sind.
Professor Ulrich Hegerl
Vorstandsvorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe, engagiert sich seit rund 30 Jahren in der Forschung und Aufklärung von Depressionen. Bis 2019 Direktor der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Uniklinikum Leipzig.
Herr Professor Hegerl, Depressionen zählen mittlerweile zu den häufigsten Erkrankungen: Wer ist besonders gefährdet?
Entscheidend ist, dass der Betroffene eine Veranlagung zur Depression mitbringt. Liegt eine Veranlagung vor, dann können depressive Krankheitsphasen durch äußere Ereignisse und Belastungen getriggert werden. Zum Beispiel durch Konflikte in der Partnerschaft, durch Belastungen am Arbeitsplatz oder durch fortdauernde körperliche Schmerzen. Meist erkranken Menschen mit einer Veranlagung mehrfach in ihrem Leben und oft auch, obwohl die Lebensumstände vergleichsweise günstig sind. Andererseits können Menschen ohne diese Veranlagung größte Bitternisse erleiden, ohne jemals eine richtige Depression zu erleiden.
Woran machen Sie die Veranlagung fest?
Die Veranlagung kann genetisch bedingt sein. Häufig sind auch Angehörige erkrankt und eineiige Zwillinge erkranken deutlich häufiger gemeinsam als zweieiige. Sie kann aber auch erworben sein durch Traumatisierungen und Missbrauchserfahrungen in der Kindheit. Die genauen Mechanismen der Erkrankungen sind allerdings bisher nicht verstanden. Es finden sich zahlreiche zentralnervöse Veränderungen bei depressiven Erkrankten, wie etwa eine andere Reagibilität des Stresshormonsystems oder bei verschiedenen Neurotransmittersystemen.
Welche Veränderungen die Erkrankung verursachen und welche vielleicht eher Folge sind, ist oft schwierig zu klären.
Die Zahlen des Gesundheitsatlas Deutschland legen nahe, dass die Einwohnerinnen und Einwohner in westdeutschen Bundesländer häufiger betroffen sind als beispielsweise jene in Sachsen oder Mecklenburg-Vorpommern. Wie erklären Sie sich das?
Ob eine Depression in diese Statistiken eingeht, hängt von vielen Faktoren ab. So beeinflussen das Erleben einer Stigmatisierung der Erkrankung, die Versorgungsangebote und der Zugang zu professioneller Hilfe, die Schulung von Hausärzten bezüglich depressiver Erkrankungen, ob ein Betroffener sich Hilfe holt und die Erkrankung korrekt diagnostiziert und behandelt wird. Deshalb erlauben solche Zahlen kaum Rückschlüsse, wie viele Menschen tatsächlich erkrankt sind.
Es gibt also eine erhebliche Dunkelziffer bei der Betroffenheit?
Ja, aus Diagnosedaten auf Erkrankungsraten zu schließen, ist schwierig. Zum Beispiel könnte es sein, dass Menschen in den neuen Bundesländern wegen größerer Versorgungsengpässe und höherem Stigma sich seltener Hilfe suchen und so in den Kassendaten seltener auftauchen.
Ob man in einer Stadt oder auf dem Land wohnt, hat auch keinen Einfluss?
Die oft größeren Schwierigkeiten einen Psychiater oder Psychologischen Psychotherapeuten in Wohnortnähe zu finden, könnte beispielsweise die aus den Routinedaten hochgerechneten Erkrankungsraten beeinflussen. Die positiven oder negativen Einflüsse auf das Erkrankungsrisiko eines Lebens in der Stadt oder auf dem Land würde ich nicht als sehr bedeutsam einschätzen.
Wie bereits gesagt, die Veranlagung spielt eine oft unterschätzte Rolle.
Über welche Fähigkeiten sollten die Ärzte verfügen?
Sie müssen die richtigen Fragen stellen, um eine Depression und vielleicht auch eine Suizidgefährdung zu erkennen. Das kann man am besten in Rollenspielen üben. Dass eine depressive Erkrankung und nicht nur eine Reaktion auf die Bitternisse des Lebens vorliegt, zeigt sich zum Beispiel in der Neigung zu Schuldgefühlen. Etwa, wenn Gedanken ,ich bin eine schlechte Mutter, ein schlechter Kollege, ich mache alles falsch‘ kommen. Auch wenn Patienten von Gefühllosigkeit oder einer inneren Daueranspannung berichten. Oft weniger, seltener aber auch mehr Appetit, dazu Veränderungen des Gewichts Schlafstörungen sowie die Äußerung von suizidalen Gedanken sind weitere häufige Depressionssymptome.
Die Stiftung Deutsche Depressionshilfe hält Infomaterial für Betroffene bereit und bietet für das medizinische Personal auch Schulungen an. Wir haben zudem das Online-Programm „iFightDepression“ entwickelt. Es liegt in vielen Sprachen, inklusive Ukrainisch, Russisch und Arabisch, vor. Es ist kostenfrei und ähnlich aufgebaut wie eine kognitive Verhaltenstherapie. Der Zugang der Patienten erfolgt über geschulte Ärzte oder Psychologische Psychotherapeuten.
Wie sollte eine Behandlung aussehen?
Antidepressiva und Psychotherapie sind die beiden wichtigsten Behandlungssäulen. Manchmal ist auch die Kombination beider sinnvoll. Details der Behandlung werden in den 2022 überarbeiteten Nationalen Versorgungsleitlinien beschrieben. Da die Patienten anfangs die Depression meist als Reaktion auf schwierige Lebensumstände und nicht als eigenständige Erkrankung auffassen, bestehen bezüglich Antidepressiva oft Vorbehalte.
Mit Antidepressiva und Psychotherapie kann nicht nur in den meisten Fällen die Depression zum Abklingen gebracht, sondern auch das Rückfallrisiko deutlich reduziert werden. Ist die akute Krankheitsepisode unter einer Behandlung mit Antidepressiva abgeklungen, sollte etwa vier bis zehn Monaten mit gleicher Dosis weiter behandelt werden und danach mit dem Patienten entschieden werden, ob die Medikation ausgeschlichen oder eine rückfallverhütende mehrjährige Weiterbehandlung sinnvoll ist.
Menschen mit Rückenschmerzen gelten als besonders gefährdet, eine Depression zu entwickeln.
Rückenschmerzen allein lösen in der Regel keine Depressionen aus. Rutscht man in eine Depression, dann kann sich das ganze Erleben und Denken auf die Rückenschmerzen oder andere Missempfindungen einengen, was zu der irrigen Annahme führen kann, diese seien die Ursache.
Hat sich die Zahl der Betroffenen während der Corona-Pandemie erhöht?
Die Stiftung Deutsche Depressionshilfe lässt seit 2017 die Bürgerinnen und Bürger jährlich zum Wissen und zu den Meinungen über Depression befragen. Nach diesen Daten, veröffentlicht im Deutschland-Barometer Depression, hat sich die Anzahl der Menschen mit der Lebenszeitdiagnose Depressionen während der Pandemie nicht groß verändert.
Sehr negativ waren jedoch die Maßnahmen gegen Corona für die, die bereits vorher an Depressionen erkrankt waren. Hochgerechnet hat sich der Gesundheitszustand von etwa zwei Millionen Betroffenen verschlechtert. Es kam zu Rückfällen, zu einer Zunahme der Depressionsschwere und dem Auftreten von Suizidgedanken, die die Betroffenen als Folge dieser Maßnahmen sehen. Die Daten zeigen, dass Faktoren wie weniger Sport, längere Bettzeiten und unstrukturierte Tage zu Hause während der Lockdowns mit den Verschlechterungen der Depressionsverläufe in Verbindung standen.
Wir hatten bereits über die Hausärzte gesprochen – was kann auf der lokalen Ebene noch getan werden, um die Situation von Menschen mit Depressionen zu verbessern?
Wichtig ist die Aufklärung. Insbesondere ist zu vermitteln, dass eine Depression kein persönliches Versagen bedeutet, sondern eine eigenständige Erkrankung ist. Den Betroffenen wird eine Last genommen, wenn sie erfahren, dass die Veranlagung die zentrale Ursache ist.
Daher sollte ein Basiswissen über Depressionen beispielsweise in Schulen oder in Unternehmen vorhanden sein. Mehr als 60 Prozent der Bevölkerung in Deutschland gibt an, direkt oder indirekt über nahestehende Menschen von der Erkrankung betroffen zu sein.
Was können Angehörige und Freunde tun?
Hier ist zunächst wichtig, sich über die Erkrankung zu informieren. Auf der Website der Stiftung Deutsche Depressionshilfe gibt es vielfältige Informationen, auch zur Suizidprävention. Angehörige und Freunde können dann verstehen, warum der Erkrankte oft auch kleinste Dinge nicht mehr schafft und dies nicht Nachlässigkeit oder Lieblosigkeit ist. Sie werden auch erkennen, dass sie nicht für die Behandlung zuständig sind, ebenso wenig wie bei anderen schweren Erkrankungen. So wichtig Zuwendung und liebevoller Umgang sind, damit kann eine Depression nicht geheilt werden.
Besonders wichtig ist, dass Angehörige die Erkrankten ermuntern und ermutigen, sich professionelle Hilfe zu holen und die Behandlung durchzuhalten. Nicht selten sind es Angehörige, die Arzttermin ausmachen und den Erkrankte in die Sprechstunden begleiten.
Weiterführende Informationen
- Stiftung Deutsche Depressionshilfe und Suizidprävention iFightDepression
- PRO DIALOG Depressionen: Es trifft Jung und Alt
Die aktuelle Ausgabe als PDF
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